Das Café Kranzler ist Inbegriff westdeutschen Wirtschaftsaufbaus, der in den 50er Jahren in der Wiederbelebung der Flaniermeilen am Kudamm seinen Ausdruck fand. Das schon damals traditionsreiche Café Kranzler wurde zu jener Zeit in seiner heutigen Erscheinung errichtet. Es gilt als teuer aber lohnend und ist ein Markenzeichen der Westberliner Kaffeehauskultur.
Lange haben wir gezögert und Vorfreude für den Besuch des Café Kranzler aufgebaut. Was uns dann im Rund des Cafés erwartet, lässt sich in etwa so zusammenfassen: Eine Enttäuschung nach der anderen. Zunächst noch scheint alles gut zu werden. Die Auslage bietet über fünfzehn verschiedene Torten und Kuchen, wenn auch keinen Streuselkuchen. Wir setzen uns auf die berühmte Terrasse und genießen den Blick ins Werbe-Eldorado der City West. Von überall her drängen sich Werbelogos bekannter und weniger bekannter Unternehmen auf, seit kurzem sogar vom Dach des denkmalgeschützten Hochhauses am Zoo, wo nun eine stadtweit sichtbare Bayer-Reklame installiert wurde.
Als nächstes fällt auf, das Tische und Porzellan nicht zusammenpassen und die charakteristischen rot-weißen Geranien zwar herrlich anachronistisch wirken, jedoch die ansonsten stillose Dekoration nicht aufwiegen können. Die Preise sind wie erwartet hoch, die Bedienung unerwartet unherzlich und desinteressiert.
Der Kuchen wird in ungewohnt kleinen Stücken serviert, lässt sich aber auch nur mit Mühe genießen. Nach alter Tradition, die heute unüblich – mit Recht, möchte man sagen – geworden ist, werden die Kuchen mit reichlich Buttercreme angerichtet, lassen aber leider jeden Hinweis auf gelungenes Konditorei-Handwerk vermissen. Es scheint so, als seien den immergleichen Buttercreme- und Biscuit-Schichten einfach Aromen beigemischt, die Birne und Mango und dergleichen imitieren. Zur Krönung erhalten die Buttercreme-Häupter obenauf ein matschiges, kleines Stück Frucht aus der Konservendose. Die Getränke sind klein und werden lieblos dargereicht, teilweise nebst verschwindend kleinem, brüchigen Keks. Die Schokolade wird mit billiger Sahne aus der Tube angerichtet, die Schokolade selbst ist zwar nicht einfach ein Kakao, sondern wird aus bitterer Schokolade gewonnen, schmeckt aber nach Automatenware.
Fast ungläubig starren wir am Schluss auf die beinah einzige erfüllte Erwartung: Das Kranzler wird von einer bestimmten Sorte „Wilmersdorfer Witwen“ beehrt: Stolze Nazi-Witwen, die vermutlich im Zweiten Weltkrieg ihre Männer verloren, welche nicht eben selten in höheren Rängen den Terror befehligten. In unsagbar überkommener Kleidertracht, in Buntfaltenrock und gesteifter Spitzen- und Rüschenbluse, sowie in damaliger Frisurenmode, erscheinen sie beim Kaffeekränzchen im abgewirtschafteten Kranzler wie Exemplare eines überkommenen Geistes. Möge ihnen die Buttercreme die Mägen beunruhigen.
Ja, wir Wilmersdorfer Witwen verteidigen Berlin,
sonst wär’n wir längst schon russisch, chaotisch und grün.
Was nach uns kommt ist Schite,
denn wir sind die Elite.
(aus Linie 1)