Hurra, ich lebe noch

Nachdem ich gestern den Schleier gelüftet, die rosarote Brille abgesetzt und meinem Staat ganz tief ins polizeiliche Auge gesehen hatte, da war ich plötzlich richtig verliebt – verliebt in den Gedanken, ohne ihn zu leben. Weitere Konsequenz: Ich benötigte dringend ’nen Zauberstab, zwei Wasserwerfer und mindestens drei Wochen Kur. Eigentlich.

Für die ganz gewiss notwendigste Angstsituation meines bisherigen Daseins darf ich den paramilitärischen Einheiten unseres ach wunderschönen, aber seit jeher hässlich interpretierten Landes meinen tiefsten Dank aussprechen. Denn Angst löst bei mir Schrei(b)blockaden. Kleiner Scherz, har har.

Plötzlich eingepfercht – vorne zu, hinten zu, Seiten zu, viel zu viele Menschen auf viel zu engem Raum – und von in Panik vor gepanzerter Gewalt und Gas fliehenden Hunderten an eine Hausfassade gepresst, erlebe ich dies kollektive Vergnügen der Extraklasse, welches sowohl einem beginnenden Wonnemonat als auch wirklich jeder Prä-, Post- und sonstigen Demokratie unserer Zeit vollkommen angemessen und verhältnismäßig erscheint. Dann von kraftstrotzenden Robocops noch etwas fester mit den bislang ahnungslosen anderen zusammengepresst zu werden – Atmen, by the way, wurde dabei zur Glückssache –, überstieg selbst die Erwartungen der mitgefangenen Veteraninnen und Hartgesottenen; und das ist auch gut so, denn wer ist nicht gern mal überrascht!

Panisch aus der Menge gekämpft, so umsichtig wie möglich und so zupackend wie nötig, schließlich an Kesselrand und Polizeisperre angekommen, schallt es mir entgegen: „Vorne raus!“ Immerhin, die Staatsmacht hat Humor. Da hilft nur eins: sich Flügel wachsen lassen. Syrien ist näher als man denkt.

2. Mai. Hurra, ich lebe noch!

Ostprinzessin

Auf dem Mariannenplatz: Gerlinde Schermer (SPD), Harald Wolf (LINKE)

Was ein Bohei: ganz Berlin liebt Kapitalismus und die Polizei!

Berlin adé

Berlin: Das traumlose Zeitalter des kulturellen Verfalls fordert ein weiteres Opfer. Während in der Hauptstadt nahezu sämtliche faszinierenden Kulturprojekte der letzten Jahrzehnte ihrer politisch gewollten Auslöschung harren, ereilt uns eine weitere traurige Nachricht. An der Hasenheide in Kreuzberg wird derzeit der Club Cheetah aus den 60er Jahren entsorgt. Ende der 60er wurde er im Raumschiff-Enterprise-Stil in die Räume eines ehemaligen Großkinos hineingebaut und verfügt über 22 sogenannte Inseln, die sich über mehrere Ebenen und eine Galerie erstrecken. Die Eilande sind über Brücken und Treppen miteinander verbunden. Disco und Gastraum verbindet ein Tunnel. Zwei Röhren führen vom Eingang hinein in die größte Disco ihrer Zeit. Acht Tanzflächen warteten auf tanzwütiges Publikum, das in den besten Zeiten des Clubs in bis zu hundert Meter langen Warteschlangen auf Einlass hoffte, um dann Highlights wie die fahrbare DJ-Kugel zu bestaunen.

Der ehemalige Besitzer hatte sich im Betrieb und mit dem Einbau einer Saunaanlage im Keller des Hauses verhoben. Neue Besitzerin wurde ein Kreuzberger Unternehmen (Taekker: Immobilien im zentralen Berlin) mit Sitz in Dänemark, welches das Gebäude in einer Zwangsversteigerung erwarb.

Vor einiger Zeit noch wurde der Club zur Miete angeboten. Im Jerry-Cotton-Film Todesschüsse am Broadway zeigt sich das Cheetah noch von seiner lebendigsten Seite. Da jedoch weder potente Kulturinteressierte noch Senat oder Bezirk das ob seiner Technik, Architektur und kulturellen Bedeutung einmalige, schützenswerte Kleinod der 60er erhalten wollen, ereilt den Hydraulik- und Designtraum nun das – durchaus abwendbare – Schicksal des Großen Saals im Palast der Republik, welcher über weltweit einzigartige Technik und Installationen verfügte und dennoch dem langweiligen Einerlei gleich gemacht wurde. Luftschloss lässt grüßen. Danke, rot-roter Senat, danke, grün-rotes Bezirksamt, hoch soll sie leben, die totale Verwertungslogik!

Ostprinzessin

Cheetah, Hasenheide Cheetah, Kreuzberg Club Cheetah, Berlin-Kreuzberg

Denn wir sind wieder wer

Weshalb der Typ im Unisex-WC des Musikclubs meinen Urin trank – plötzlich und unvermittelt, aus der Pinkelrinne heraus – das kann ich nicht genau erklären, dazu befragt habe ich ihn nämlich nicht. Denn schließlich leben wir ja in einer von Anonymisierung durchsetzten Wirklichkeit, in der uns die Begehren der Mitmenschen fern und versteckt erscheinen, so sie sich nicht – offen zur Schau getragen – unserer Wahrnehmung aufdrängen. Verroht werden es die einen nennen, sinnenfreudig die anderen. Mir hingegen fehlen dafür schlicht die Worte; über eines jedoch bleibe ich mir im Klaren: Eine echte Schamlosigkeit ist mir genauso lieb wie eine echte Scham.

En vogue ist derweil eine neue Biederkeit, die an Realitäten der 50er Jahre erinnert, während zu gleicher Zeit eine sich fortsetzende Verrohung der Sitten aufblüht. Beides lässt sich gut an der Entwicklung der Musikszene ablesen und dort insbesondere am von strikt marktorientierten Akteuren beherrschten Business: Im populärkulturellen Segment steht zur Schau getragene Softsex-Attitüde de hoch im Kurs, welche – gepaart mit scheinbar provokanten Gesten –, einen gewissen Anspruch auf gesellschaftliche Unangepasstheit beweisen soll, dem sie freilich an keiner Stelle tatsächlich entspricht. Dem Konsument bietet sie jedoch die Reflexionsfläche für sein Bedürfnis nach Ausbruch, Wildheit und Ekstase. Wo bereits Madonna schnell an die Grenzen ihrer Glaubwürdigkeit geriet, dort beginnt die Welt der Lady Gaga, in der sich die sinnliche Beliebigkeit der zu Humankapital transformierten Menschheit derzeit wohl am umfassendsten widerspiegelt: Ihre Accessoires wirken mitunter wie computergenierte Verlegenheitslösungen, zusammengestöpselt aus einem unerschöpflichen Pool an Persönlichkeitsausweisen, während sich hinter der lauten Sichtbarkeit ihres Tuns nicht viel mehr als ein umfassendes Sinn- und Gefühlsvakuum auftut.

Und auch in der sogenannten Indieszene stehen Revoluzzerposen anstelle inhaltlicher Streitfragen, generieren sich einzig und allein zum Zwecke des vermarktungsfördernden Moments, verbreiten sich als Mode ohne gesellschaftsrelevante Botschaft und bleiben somit Selbstzweck. Im Gegensatz zu frühem Punk oder der weithin gefürchteten Rocker-Mode fehlt heutzutage den von musikkulturellen Szenen geprägten Mode-Statements der Thrill. Vielleicht ist tatsächlich der Manga-Style des viel geschmähten Tokio Hotel-Sängers Bill Kaulitz noch die gewagteste Inszenierung, weil der Zeichentrick in seiner Fleisch gewordenen Verkörperung immerhin mit alten Sehgewohnheiten bricht. Denn geschlechtliche Uneindeutigkeiten führen nach wie vor zielsicher zu Anstoß erregender Verwirrung. Jede Transe kann davon ein Lied singen. Selbst in Berlin-Mittes Torstraßenviertel, das sich im Angesicht seiner urbanen Versprechen auch bei Touristen und Zugezogenen großer Beliebtheit erfreut, kann sie keine zwei Ecken weit gehen, ohne angepöbelt oder lächerlich gemacht zu werden.

Es könnte womöglich der Schluss naheliegen, dass die eigentliche Provokation in der Besinnung auf „wahre Werte“ läge. Doch geistern besagte Werte ohnehin als Untote durch das systemgenerierte Netzwerk namens Gesellschaft: Allenthalben finden sich Wünsche und Bilder aus längst vergangen geglaubten Zeiten ganz oben auf der Beliebtheitsskala. Entsprechend bieder fallen nicht nur die „Kunstwerke“, Musik- und Videoproduktionen etablierter Stars aus, sondern auch die des Nachwuchses: Zwar im Cyberlook inszeniert und via iPhone, iPad, Facebook und Twitter permanent mit der Umwelt verbunden und scheinbar in regem Austausch stehend, verharren die persönlichen Werte an der Schamgrenze der 50er. Mädchen tragen ihr Haar lang, Jungs kurz, und der Wunsch nach dem Kleinfamilienidyll als „die wahre Lebensperspektive“ nährt sich aus dem Erlebnis der mäßig wilden Jahren der Jugend, das im Einklang mit der Entfremdung des gesellschaftlichen Ichs steht. Gleichzeitig präsentieren sich User in vielen Internetkontaktforen in sexuellen Posen, mit verrohtem Sprachgebrauch und abgestumpfter Sinnlichkeit.

Eine Perspektive auf nahezu vollständige Integration haben daher die neuen Schwulen zwischen 14 und 49. Für nicht viel mehr als einen Tag im Jahr in aller sich im Einzelfall schnell als Einfalt herauskristallisierenden Vielfalt öffentlich sichtbar, passen sich die Träume der meisten schwulen Männer an den 364 anderen Tagen im Jahr erst recht an die ihrer nicht-homosexuellen Konsumgenossen an. Wen würde es da also noch wundern, wenn die sog. Homo-Ehe unter schwarzer Führung eingeführt würde. Die neuen Schwulen haben sich längst assimiliert und nur wenige, so scheint es, haben darüber vorher umfassend nachgedacht. Das allgemeine Mitläufertum ist mittlerweile unter Schwulen mindestens so verbreitet wie in der Restbevölkerung. Der sexuelle Selbstverwirklichungswahn wird zwar von vielen homosexuellen Männern immer noch besser beherrscht als von heterosexuellen Zeitgenossen, doch im Allgemeinen können Schwule heute nichts besser als jene. Dies zeigte sich auch jüngst bei den Veranstaltern des Christopher Street Day (CSD), die auf Vorwürfe der Miterfinderin der Gender-Debatte, Judith Butler, den strukturellen Rassismus weitestgehend zu ignorieren, Kriegseinsätze zu verherrlichen und all zu sehr in die Kommerzialisierung abgerutscht zu sein, nicht nur sichtlich beleidigt, sondern – eine opulente Kleingeistigkeit offenbarend – dem Beifall klatschenden Teil des Publikums reflexartig entgegenhielten: „Ehrlich gesagt: Ihr seid hier nicht die Mehrheit!“ Die Mehrheit nämlich hatte es mit ihrem Assimilierungswillen so ernst genommen, dass sie den CSD vom traditionellen Datum , dem 26. Juni, aus Gründen der Staatsräson auf den 19. Juni vorverlegte: Ein Kniefall vor König Fußball. Dementsprechend waren neben den Fähnchen in Regenbogenfarben diesmal noch mehr schwarz-rot-gelbe Lappen zu sehen als in den Vorjahren.

Doch funktioniert der Eifer des Fußballsports vor allem auch als Durchlauferhitzer für Zugehörigkeitsgefühle; einmal mehr ist es das Mitläufertum, das den ohnehin latenten Drang zur Nationalisierung immer gefährlicher werden lässt. Und so müssen dagegen immunisierte Mitmenschen die bieder-ekstatische Heiterkeit der sich offenbarenden, patriotischen Glücksgefühle mit Fassung tragen, wenn sie nicht Gefahr laufen wollen, einer Anklage wegen Beleidigung staatlicher Hoheitszeichen ins Auge zu sehen. An den Fahnenmast mit vergoldeter Spitze, den mein Nachbar vor ein paar Tagen vor seinem Fenster fünf Meter hoch in den deutschen Himmel baute, werde ich mich also gewöhnen müssen – oder eben auch nicht. Und als vor mir ein sich als „richtiger Deutscher” bezeichnender Jugendlicher mit wehender schwarz-rot-gelber Fahne über der Schulter in einen prenzlbergischen Baumarkt hineinlief und dort Eltern und Bruder seine hervorragende Idee – „Wenn wir Weltmeister werden, lauf ich ’n ganzes Jahr überall als Deutscher“ – wissen ließ, wuchs bei mir die Hoffnung auf den Endsieg der spanischen Mannschaft exponentiell; et voilà…

Zwischen den späten 60ern und 1990 war es im Westen, im Norden und auch im Süden der Bundesrepublik Deutschland mitunter verpönt, nationale Symbole zu tragen, zu verbreiten oder sie sich gar ins Gesicht zu malen; nur Altnazis, Neonazis und rechtsgerichtete Bürgerliche hissten die deutsche Fahne. Und im Osten kannte man solche Bilder von inszenierten Aufmärschen. Offenbar ist das alles in Vergessenheit geraten. Seit der Einverleibung der DDR durch die BRD sind „wir“ ja wieder wer. Und schon war es aus mit der früheren Nachdenklichkeit – lang hatte sie nicht gewährt.

Ostprinzessin

Nachbars Fahne

Mitmachen, Ignorieren oder eine Axt zur Hand nehmen?

Rot-Rot geht über Leichen

Dem Sozialmieter Dieter Bernhardt wurde das Leben genommen.

Leichen pflasterten ihren Weg: Die Protagonisten des Berliner Senats haben dem Ausverkauf der sozialen Errungenschaften in der Stadtentwicklungspolitik nie abgeschworen. Zwar war das alte Fördersystem falsch, weil es in erster Linie der Bereicherung einiger weniger Bauherren diente, doch sinnvolle, soziale Änderungen wurden nie in Angriff genommen. Im Gegenteil: Die zuständige Senatorin Ingeborg Junge-Reyer (SPD) hat das Problem der dem freien Markt zum Fraß vorgeworfenen, ehemals öffentlich geförderten Wohnungen immer ignoriert bzw. noch befeuert.

Mehrere tausend Menschen sind betroffen. Der Senat verhöhnt die Betroffenen mit Umzugshilfen. Auch die vorgeblich sozialer ausgerichtete LINKE hat bislang nichts für die Entschärfung getan, obwohl ihr die sich derzeit zuspitzenden Nöte der Mieter bereits seit vielen Jahren bekannt sind. Stattdessen werden überall in der Stadt weiterhin Aufwertung und Inwertsetzung von LINKEN mitorganisiert. Und vereinzelte Sonntagsreden gegen die Verdrängung von sozial schwächeren Mietern aus den innerstädtischen Wohngebieten haben sich stets als Augenwischerei entpuppt.

Dieter Bernhardt ist nicht der erste Sozialmieter und er wird nicht der letzte sein, der aus dieser Bedrängung für sich selbst keinen Weg mehr findet. Im März war seine Leidenschaft für das Leben noch ungebrochen:

„Liebe Ostprinzessin,

(…) Ja es ist eine Katastrophe, war gerade in Steglitz in einem Gebäudeblock mit 6 Eingängen, also über 100 Wohnungen. Das steht seit längerer Zeit unter Insolvenz und die Mieter ahnen gar nicht, was da auf sie zukommt. Wir müssen uns bündeln und vielleicht sogar zivilen Ungehorsam organisieren, denn anders reagiert die Politik nicht (…).

Liebe Grüße

Dieter“

Wenn Stadtentwicklung fassungslos macht

Ein Lachkrampf zwischen Havelspitze und Haselhorst

Prenzlauer Berg, gestern Nacht. Um 0.06 Uhr steigen ich und die andere Person in die S-Bahn nach Jungfernheide. Weiterfahrt mit der U-Bahn. Das Ziel: Haselhorst. Hier wurde zwischen 1930 und 1935 die sogenannte Reichsforschungssiedlung Haselhorst angelegt und 1963 wurde hier der bekannte Travestiekünstler Ades Zabel geboren. Durch das nachtschlafene Haselhorst gehend, vorbei an frühem sozialen Wohnungsbau, eine Einfamilienhaussiedlung – mit Garagenhöfen aus verschiedenen Jahrzehnten – passierend, gelangen wir über einen finsteren Pfad auf eine Straße, die direkt zur wundervollen Spandauer-See-Brücke führt.

Die kurz vor ihr auf einem Baufeld linear hintereinander gereihten Ketten sogenannter Townhouses lassen wir weitgehend unbeachtet rechts liegen. Wir gehen die Brücke hinauf und genießen die Atmosphäre. „Da gibt es doch nichts“, sagt die andere Person, als ich bereits auf die andere Seite laufe, hinein ins hingeklotzte Neubaughetto Wasserstadt. Eigentlich ist diese Lage an der Havel vortrefflich. Doch die Wasserstadt – gebaut seit den 90er Jahren – ist nicht geworden, was sie werden sollte. In der Abflugschneise vom Flughafen Tegel gelegen und ohne Anbindung an das U- und S-Bahn-Netz, hat dieses Neubaugebiet, das im Stile eines phantasielosen sozialen Wohnungsbaus – in großen Block-Formationen – errichtet wurde, von Anfang an vor Allem Menschen angezogen, die auf dem Wohnungsmarkt keine großen Sprünge machen können.

Gleich vorn am Eck findet sich der Jugendtreff Havelspitze. In der Nähe stehen ein paar Jugendliche und quatschen. Wir gehen weiter, hinein in die Neubauwüste. Eine Bushaltestelle bietet den ersehnten Nachtverkehr gen U-Bahnhof. In 15 Minuten wird ein Bus kommen, so lesen wir es auf dem Plan. In der Zwischenzeit pendeln wir zwischen Haarstudios, Havelufern und dem Innenhof eines der großen Blöcke, die durch einen Aufgang von der Straße aus erreichbar sind. Hier zu leben, das mag hart sein, aber für ein paar tausend Menschen ist es Realität. Von den Fassaden grüßen viele Satellitenschüsseln. Hier ist nicht Kreuzberg SO36. Street Life ist hier ein seltenes Phänomen. Und wo kein Street Life stattfindet, gerade dort muss man sich die große, weite Welt per Schüssel ins Wohnzimmer holen.

Wir gehen zurück zur Bushalte. Während der restlichen Wartezeit beginne ich damit, ein wenig zu spötteln: Ja der Busfahrer wird sich wundern, dass in dieser urbanen Öde überhaupt Leute einsteigen! Ja er wäre sicher froh, wenn er einfach weiterfahren könnte! Und dann plötzlich: Ein VW-Kleinbus hält am Wartehaus, „Berlin-Taxi“ steht außen dran. Ich wende mich ab. Keinesfalls werde ich jetzt ein Taxi besteigen, wenn doch gleich der Bus kommt! Aber die andere Person fragt durch das hinuntergelassene Fenster der Beifahrerseite hindurch: „Sind Sie der Bus?“ Und ja, er ist es! Die andere Person öffnet die Seitentür und steigt ein. Ich folge fassungslos. „Die Tür ist nicht richtig zu“, sagt der Fahrer. Beim dritten Mal dann klappt es. Sieben Plätze, Anschnallgurte – wo nur bin ich hier gelandet? Werden wir gerade entführt? Aber wohin – und warum?

Das Fahrzeug ist bereits unterwegs und quert die Seebrücke. Ich ringe nach Fassung und auch die andere Person sitzt fassungslos auf ihrem Platz neben mir. Abgewetzte Polster und schmutzige Scheiben mit Voerhängen. Vorhänge wie im Flugzeug. Die andere Person spricht nun wie paralysiert aus, was ich noch gar nicht fassen kann: „Ich fühle mich gerade wie in einer anderen Welt!“ Unzählige Male schon hat die andere Person mir davon berichtet, wie sie sich in ihrer eigenen Welt, in ihrem „Space“ fühle. Verstehen konnte ich dieses Gefühl zwar immer, nachvollziehen jedoch meistens nicht. Aber diese Momente lassen sie mich fühlen: Eine andere Welt. Eine real existierende, andere Welt.

Abwechselnd, dann gleichzeitig, geraten wir ins Lachen. Jeglicher Unterdrückungsversuch schlägt ins Gegenteil um. Aus den Autolautsprechern erklingt nun ein Lied: „I would give everything I own, give up my life, my heart, my home“, von Boy George im Jahre 1987 aufgenommen. Nun gibt es für mich gar kein Halten mehr. Ich lege die Hände vor mein Gesicht, um dem Fahrer, der mich gewiss während der ganzen Zeit gut im Blick hat, meine Fassungslosigkeit nicht allzu deutlich zu offenbaren. Niemandem aber sei empfohlen, hysterische Lachkrämpfe, unter denen man sich zu biegen und nach Luft zu schnappen beginnt, allen Ernstes unterbinden zu wollen. Es schießt unweigerlich aus einem heraus! Auch das aufgebügelte, fliegende Stoffflugzeug auf meiner mit einem Interflug-Schriftzug versehenen Tasche, springt mir nun ins Auge und sorgt ohne Gnade für neue Lachsalven. Sämtliche Anläufe, wieder Fassung zu gewinnen, enden an der jeweils nächsten Gabelung meiner Gedanken.

„I don’t know why, just don’t know why“, singt Boy George. Beim Blick aus dem Fenster versuche ich, mir das Haselhorst vorzustellen, in dem Ades Zabels Kunstfigur Karin Hoehne Grundschullehrerin gewesen ist. Karin Hoehne unterrichtet die Fächer Deutsch, Werken und Tuschen. Unweigerlich stelle ich mir nun diese Person neben uns als Buspassagierin vor. Oder andere Passagiere. Vielleicht mag es ja welche geben, die es für die natürlichste Sache der Welt halten, um halb zwei Uhr nachts durch Haselhorst gefahren zu werden, von einem öffentlichen Kleinbus mit Flugzeugfenstervorhängen und herrlich tuntiger Spreeradio-Eighties-Musik. Auf dem weiten Weg zur Endstation hält der Wagen an keiner der Haltestellen und kein einziger Passagier steigt zu. Unsere Fahrscheine, so bemerkt die andere Person, hat der Busfahrer gar nicht sehen wollen. Am Ende dann ein persönlicher Abschied: Ciao! „I would give everything I own, Just to have you back again.“

Mit herzlichem Dank an Boy George.

Erste Townhouses (Mitte 2004) Blick nach Spandau Blick zur Wasserstadtbrücke Spandauer-See-Brücke Abflug...

Wichtige Nachrichten vom Tage

Ein bebilderter Beitrag im zweiten Nachrichtenblock in den Ferrero News der rbb-Abendschau Dussmann-Evening-Show bringt es auf den Punkt:

„Heute Nachmittag wurde im Sony-Center der 40-jährige Geburtstag der Kinder-Schokolade gefeiert (…).“

Die Ostprinzessin Barbie von Mattel ließ sich dieses Ereignis selbstverständlich nicht entgehen und entgegnete den kritischen Nachfragen eines öffentlich-rechtlichen Senders privaten Konkurrenten von Ferrero im konzerneigenen Fernsehen: „Eigentlich wollte ich heute meinen Geburtstag im neuen Calvin-Klein-Center feiern, aber dann habe ich in der Dr-Oetker-Apotheke zufällig von dieser tollen Veranstaltung gehört. Ich wollte schon immer mal die Milka-Kuh treffen. Leider waren hier nur blonde, blauäugige Pappkinder, aber später kam dann die HypoVereins-Fee und wir haben noch ein wenig in der O2-Lounge gefeiert. Das war mein schönster Geburts Vivantestag seit vielen Jahren!“

We love to entertain you. Und dann noch DAS Bekenntnis am Rathaus BertelsmannCenter Schöneberg Scheringberg: „Ich bin ein Kapitalist!“

Hasta la victoria siempre.

„Das war hier mein Lieblingsort“

Cottbus

Die Mokka-Milch-Eisbar – „das Sternchen“ – und die wohl schönste öffentliche Uhr des Ostens (die Berliner Weltzeituhr einmal ausgenommen) gehören zu den herausragenden Beispielen der futuristischen sozialistischen Moderne, welche reich an Kosmos- und Space-Symbolik ist.

Sie sind beseitigt worden. An ihrer Stelle der Stadtpromenade entsteht nun ein Einkaufszentrum – profan und belanglos.

Mokka-Milch-Eisbar, Sternchen, Stadtpromenade Cottbus Chronometer auf der Brücke, Stadtpromenade Cottbus Chronometer, Stadtpromenade Cottbus