Shakespeares Sonette

Zu Tränen gerührt von der erhabenen Aura Inge Kellers (87),  der „diensthabenden Gräfin der DDR“ (Zitat: Inge Keller), in der Rolle des  Shakespeare, Jürgen Holtz (79) als Elizabeth I. und Ruth Glöss (83) als Fool; verzaubert vom betörenden Gesang des hervorragend schauspielenden Countertenors Christopher Nell als Eve.

Ein Stück von Robert Wilson. Musik: Rufus Wainwright.

Ägide

Ägide

Wächter der Schatten rufen meine Namen:
Amos! Entbehre deiner Haft! Begehre Einlass!
Unheil dräut. Esther! Deine Arme halten nichts.
Doch nahen die Träger der letzten Gewähr:
umträumte Seele, aller Sinne Hatz entflohen,
ruhend an meiner Brust, außer sich. Zeitstäube
durchkreisen den Äther, nur einmal noch.
Gib acht! Der Sog der Vergessenheit fasst
und spannt sein Netz aus Haltlosigkeit.

Anderwärts liegt mein Zuhaus.

 

[ostprinzessin]

turn the page

Jedes gelebte Leben hinterlässt Spuren – bewusst und unbewusst gelegte – die lesbar sind für die Mitmenschen und die Nachwelt: in Form von Tagebüchern, Fotos, Briefen oder Notizen usw. Die meisten dieser Lebenszeugnisse verschwinden nach dem Tod einer Person im Müll oder in den Schubladen der Hinterbliebenen. Nur manche werden später doch veröffentlicht, posthum und weil der entsprechenden Person eine gewisse Aufmerksamkeit im öffentlichen Leben zukam oder weil sie Zeuge von geschichtlich relevanten Ereignissen war.

bigNOTWENDIGKEIT pusten den Goldstaub von Buchdeckeln & Zelluloid und inszenieren die Selbst-Inszenierung. Ein trauriger Weltstar, ein verschämter Intellektueller, ein glamouröser Revolutionär, eine Tagebuchschreiberin, die nicht nur Luft schaufeln will und ein gefeierter Schriftsteller, den es niemals gab, bringen Erzählungen in Gang, zeichnen Spuren nach und verdichten die autobiographischen Fiktionen ihrer selbst. Aus Stimmengewirr und Textfluten versuchen sie gemeinsam einen „idealen“ Lebensverlauf zu komponieren.

Für turn the page stöbern fünf DarstellerInnen in Tagebüchern, Bildern und Briefen und erforschen die dokumentarischen Spuren, die fünf andere Leben hinterlassen haben. Durch die Erzählung fremden Lebens untersuchen sie die Strategien und Mechanismen des Sich-Selbst-Erzählens.

In einer Zeit, in der die öffentliche mediale Selbstdarstellung einem fundamentalen Wandel unterliegt, wenden sich bigNOTWENDIGKEIT Selbstzeugnissen unterschiedlichster Art als Ausgangsmaterial zu und werfen damit Fragen der Selbstkonstruktion, der Selbstinszenierung und nach den Ingredienzien eines als gelungen empfundenen Lebens auf.

„Ich wäre nichts, wenn ich nicht schreiben würde. Indessen bin ich woanders als da, wo ich schreibe. Ich bin besser als das, was ich schreibe. “ Roland Barthes

Von und mit Esther Becker, Rosario Bona, Anna-Katharina Müller, Sahar Rahimi und Marcel Schwald. Im Theaterdiscounter.

Bei Einbruch der Nacht

„Wir alle stürzen in jeder Sekunde auf unseren eigenen Tod zu.“

Vom Meer und vom Leben am Meer, davon handelt das Stück. Von den alten Bewohnern eines Fischerdorfes, die auf ein hartes, aber erfülltes Leben zurückblicken. Sie befinden sich im „Schwebezustand“ des Rentnerdaseins: Zwar sind sie ganz fröhlich und lieben und streiten sich in bester Walter-Matthau-und-Jack-Lemmon-Manier; sie sind in Kontakt mit ihren Familien und Freunden – aber „gebraucht“ werden sie nicht mehr, die Verbindungen zu den Menschen und den Dingen des Lebens werden flüchtiger. Manchmal fällt es ihnen selbst nicht leicht zu spüren, wozu genau sie noch da sind. Sie blicken hinaus auf das Meer.

Klassisch-melancholisches Volkstheater. Mit Wolfgang Jahn, Horst Warning, Katja Rogner und Henry Schneider. Von TheaterschaffT. Im Theaterdiscounter.

Politische Zensur beim RBB

Der RBB setzte gestern – nach 545 Sendungen – die wöchentliche „progressive Aktionsradioshow“ KenFM auf Radio Fritz ab. Mit Ken Jebsen, dem Produzent und Moderator der wöchentlichen Radiosendung KenFM, entledigt sich der ARD-Sender RBB der letzten politisch unbequemen Person des öffentlichen Rundfunks in Berlin. Nach einem Vorwand zur Absetzung der äußerst erfolgreichen und kurzweiligen vierstündigen Radiosendung hatte der Sender schon seit langer Zeit gesucht und fand nun offenbar endlich einen, der ekelhaft genug ist, um ihrem Namensgeber Ken Jebsen den Saft abzudrehen. Aus dem Zusammenhang gerissene Zitate und der Versuch eines prominenten Journalisten, Jebsen einen antisemitischen Standpunkt nachzuweisen, reichten dazu aus, die letzten Stunden Wahrhaftigkeit sang- und klanglos aus dem Äther zu verbannen.

Nicht in allen seiner bislang 545 Sendungen war es Ken Jebsen gelungen, ganz und gar bei der Wahrheit zu bleiben und seinem selbstgewählten humanistischen Anspruch gerecht zu werden; gleichwohl nahm er es mit dem vielzitierten Kritischen Journalismus weitaus ernster als sämtliche seiner Kollegen und überraschte seine Hörer in jeder Sendung mit gut vorbereiteten, frei und forsch vorgetragenen Analysen, die in ihrer journalistischen, philosophischen und politischen Qualität das aus dem Rundfunk gewohnte Maß bei Weitem überstiegen. Nicht selten trat Ken Jebsen hierbei den Mächtigen aus allen Bereichen der Gesellschaft und gelegentlich auch seinen Hörern (un-) angenehm nah. Gesellschaftliche Verhältnisse zerpflückte er mit überwältigendem Scharfsinn, sezierte mal grob, mal fein säuberlich; Ungerechtigkeiten thematisierte er mit provokantem Elan und stritt dabei mit ebensolchem für die Würde des Menschen. Vehement nahm er Position gegen jedwede Rassismen ein; auch auf seine Haltung gegen Militarismus beharrte er noch bei schärfstem Gegenwind.

Die Absetzung der wohl sinnreichsten Radiostunden Berlins ist ein weiterer schockierender Skandal in der Geschichte der Unterdrückung des Rechts auf freie Meinungsäußerung und sie zeigt auf, dass freigeistigem Denken offenkundig die Macht zugetraut wird, an den bestehenden Machtverhältnissen ernsthaft zu rütteln – und genau dies möge uns dazu anspornen, es zu tun.

Auf Wiederhören, Ken!

Ostprinzessin