Beide Messies auf Freiheitswanderung

Wie bereits am vorgestrigen Tage, so werden wir auch heute wieder Zeugen einer einzigartigen Performance zweier Ausnahmekünstler, denen kein Zauber fremd und jede Realität tauglich ist. Andreas A. Müller und Bo Wiget schöpfen erneut aus dem Vollen und Ganzen ihrer Phantasie. Wieder werden die Dinge der Welt wahlweise auf den Kopf gestellt oder auf die Füße, wieder horchen wir dem absurden Moment, und abermals sind wir „Teil des stillen Geknets“.

Denn Beide Messies tragen den unsichtbaren Mantel der Freiheit in erstaunlicher Eleganz und innerer wie äußerer Anmut – smart, entrückt und doch immer ganz und gar anwesend. Ihr Spiel folgt einer Dramaturgie, bei der viel Luft für Experimente und spontane Eingebungen bleibt. Wenn sie Lieder darbieten, dann klug, ironisch, ernsthaft, satirisch, absurd und immer auch berührend. Multiinstrumentalist Bo Wiget liefert den geigneten Soundtrack zum schönen Wahnsinn.

Kaum zu verwundern vermag angesichts des offenkundigen Enthusiasmus der beiden ihre selbstbewusste Haltung. „Wir haben auch keine Wahl“, antwortet Andreas A. Müller, als ich ihn auf Motivation und Leidenschaft anspreche. Dass sich viele Menschen für virtuos-absurdes Theater nicht erwärmen lassen, lässt den charismatischen Künstler kalt. Denn zur „Freiheitswanderung“ – auf der Bühne wie im Geiste – sieht Müller mit Recht keine Alternative.

Daher möchte man Beide Messies wünschen: Werdet wie ihr seid, und bleibt wie euer Werden ist – zauberhaft.

„Beide Messies: denken über ihre Zukunft nachim Theaterdiscounter.

2007 entstand das Berliner Duo des Tänzers und Songwriters Andreas A. Müller und des Cellisten und Komponisten Bo Wiget. In verschiedenen Produktionen arbeiten sie seit 2003 zusammen. Das Verschmelzen und Überschneiden verschiedener Kunstformen ist den beiden in Fleisch und Blut übergegangen. Beide Messies Performances sind zwischen Konzert, Tanz, Kabarett und Art-Happening einzuordnen, wo auch Improvisation improvisiert und so der Showkatze in den Schwanz des Zuverlässigen gebissen wird. 

Beide Messies atmen Kunst

Und dann ist es eben doch so, dass die besondere Größe eines Performancekünstlers sich in genau dem Moment zeigt, wo er auf die Bühne tritt… vor lichte Reihen. In diesem Fall zum besonderen Vergnügen des Publikums, da die beiden Künstler ihr Schauspiel mit verbundenen Augen beginnen und sich dabei innerhalb der ersten zehn Minuten aus der Tiefe des Raums bis ganz nach vorn arbeiten, wo sie dann die Augenbinden abnehmen, um festzustellen: Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun, zehn, elf, … zwölf. Beide Messies zählen das Publikum.

Und nun? Wo andere der Schlag treffen würde, ihnen wenigstens die Motivationskurve nach unten schnellen würde, im Geheimen einige Bitterkeit aufkäme, nehmen Beide Messies die Hürde einfach in umgekehrter Weise und bieten dem Publikum ein nicht weniger als zweistündiges Festspiel unbändig-virtuoser Leidenschaft dar. Wir ahnen: Anspruch und Humor der beiden sind nicht gespielt. Am aufkommenden Seelenheil beteiligen sie die Zuschauer mittels Knetmasse. Angemessenerweise nennen sie dies „Seele kneten“. Niemand also wird das Theater später unbeseelt verlassen müssen. Und wir ahnen: Die üblichen Gesetze von Schau und Spiel gelten hier nicht – nicht für die und nicht für uns.

Im weiterhin heiteren Handlungsverlauf des von musikalischer Eingebung, spontaner Verwüstung und zufälligen Unfällen reichhaltig genährten Gesamtkunstwerks erleben wir neben allerlei feinsinnigem Liedgut und brillant-bezaubernder Instrumentierung auch die zufällige Erfindung des „Erdnusswalzers“. Schnell wird klar: Das Verhältnis der beiden Protagonisten zur Kunst ist ein ebenso wissenschaftliches wie religiöses. Dass wir ihrer Schöpfung beiwohnen dürfen, ist das größte Geschenk, dass Andreas A. Müller und Bo Wiget der Welt machen können. Doch man wisse: „Religion ist auch nur Kunst“. Im Theaterdiscounter.

Beide Messies: denken über ihre Zukunft nach

Bo Dog Wiget und Andi All. Müller erheben den Anspruch, mit Wort-, Musik- und Bewegungswitz das heillose Ordnungsdurcheinander der Welt aufzuräumen. Ihr wucherndes Gesamtkunstwerk besteht aus einer kaum mehr überschaubaren Sammlung von Liedern, Tänzen, Videos und Gegenständen für Schwache, sehr Schwache, Tiere und andere Gäste, kurz: einem Wechselbad der Gefühle und Gedanken, Erwartungen und Enttäuschungen. Und und.

In der Adventszeit stehen sie zur Verfügung, um Kommendes und Angekündigte zu besingen. Denn es kommt eine Zeit des Honigorakels, in der Honig in die verstopfte Zeit des Feierns gepumpt wird. Es kommt eine Zeit, in der andere Krippen nach neuen Protokollen umtanzt werden. Es kommt eine Zeit, frische Kaffeesätze aus den Anden zu lesen, für die Alten von morgen. Und es ist an der Zeit, mit Musik und Tänzen Abwesende zu beschwören und Anwesende in ihr Anwesen wieder hinein zu versetzen. Das düstere Dunkel des horror vacui, der No Future-Sorge und des unstillbaren Erdnüsschenhungers weichen durch Beide Messies dem Licht des Trosts in steter Unordnung.

Dazu bringen Beide Messies alles mit: Bienenwachskerzen, den immerwährenden Imkerkalender, Buttermürbeteig, beide Krawatten, Cello und Bogen, beide Ukulelen, beide Nasenflöten, beide Fundsachen, Bienenstock und Stab, Bienenfell und Jacke, Bravo-Musikposter, bestechende Minimonologe und Titel wie beispielsweise „Innendrinnen isses hell“, „Diskohunger“, „Mut und Vernunft” oder Alt + Nichts geleistet”, Kalakogathie”, Die Familie ist die kleinste Zelle”, Personenkult” und Lieber Schrott”.

Das vollauf verständige Unrecht der Welt

Folge 1.034

Karl-Liebknecht-Boulevard, Bärlin Mitte. Herbst 2012.

Unter dem Grollschen Schreibtisch im siebenhundertsten Stockwerk eines teilabgerissenen DDR-Bürohauses am Liebknechtboulevard lugen zwei kleine Leoparden hervor – nein, es sind die Füße von Madame Groll; um ihren Hals geschnürt ein dazu passender Viskoseschal, auf der Fensterbank eine große Handtasche, ebenfalls in Leopardenfelloptik. Die Brille im Haar signalisiert: Wenn ihr genau genug hinseht, werdet ihr hier noch vieles weitere finden. Den einen oder anderen Gedanken zum Beispiel. Oder ein paar hübsche Ringelnattern. Man weiß es nicht.

Man könnte die Groll dazu befragen. Ihr Büro steht immer offen, zumindest seine Tür. Doch sollte man sich keine allzu großen Hoffnungen machen, Gehör zu finden, obschon man davon ausgehen kann, dass Madame Grolls Leopardenohren alles hören. Dass Kollege Konieczny zu spät zum Haftantritt erscheint, hat sie gehört, obwohl er wie auf Samtpfoten geht. Dass ich Prinzessin bin, hat sie gehört, weil ich es ihr gesagt habe. Zugehört hat sie freilich nicht, verstanden hat sie es dennoch. „Redebegabt“ nennt sie mich. Da kennt sie sich aus. Beispielsweise vermag sie ein vorwurfsvolles „Guten Morgen“ in kaum weniger als zwölf verschiedenen Nuancen zu fauchen. Wer je im Groll-Haus zu Gast war, wird sich in jedem Tiergehege der Welt zurechtfinden.

Wäre Madame Groll ein Leopard, wäre sie längst verhungert. Denn auch modebewussteste Leopardinnen trügen niemals Schuhe mit Absatz, genaugenommen tragen sie überhaupt keine Schuhe und schon gar keine Pumps, nicht mal die im Zoo, bislang zumindest nicht. Von steter Gehbehinderung einmal abgesehen, verursachen jene Lauttreter einen Lärm, der noch das gutgläubigste Stück Freiwild in die Flucht schlagen würde. Wenn dieses nicht ohnehin gerade hinter einer Bürofassade festsitzt und wehmütig zum nahgelegenen Haus des Reisens blickt, von fernen Sternen träumend. Doch merke: Nicht das Tier, sondern der Mensch überwindet Zeit und Raum. Oder es amüsiert sich im Spielcasino, welches im Erdgeschoss des Zuchthauses gelegen ist, besucht die Touristensynagoge im ersten Stock, schaut auf der hundertachtzigsten Etage in den Räumen des „Arbeitgeberverband energie- und verordnungswirtschaftlicher Unternehmen“ vorbei, oder flieht zu einem der Seher und Heiler, die im Groll-Haus residieren. In jedem Fall könnte es sich keines Unterangebots berufsorientierender Perspektiven beschweren. Bekanntermaßen sucht Vieh jedoch seinen Beruf nicht selber aus.

Perspektiven eröffnen sich in einem solchen Hause ohne jedes Zutun seiner desorientierten Tagesbewohner. Das beste Beispiel dafür ist der türkische Kollege, der vorschlug, einfach ein Fenster zu öffnen und zu springen. Bungeejumping quasi, nur eben ohne Bungee. Denn während auf dem Dach des in Sichtweite gelegenen Hotelhochhauses ein regelrecht feierlicher Nervenkitzelkonsum geriert wird, liegen die Nerven im Tollhaus der Madame Groll meist blank, ohne konsumistische Initiation zu erreichen. Aufseher tragen daher eine hohe Verantwortung. Sie werden mit Steuergeldern dazu angehalten, andere davon abzuhalten, ihrer Arbeit nachzugehen und stattdessen lieber Steuergelder ins Groll-Haus zu tragen. Verständlicherweise fühlen sie sich „verarscht“, schieben die Verantwortung dafür aber auf die Tageshäftlinge. Folgen diese dem Bedürfnis, ihre Würde zu verteidigen, geraten die Wärter in Rage und drohen mit Denunziation. Infolgedessen käme es zu Bestrafungen – den Applaus des Volkskörpers noch nicht mitgerechnet.

Die Ehre, das Wachpersonal von der Arbeit abzuhalten, obliegt allein der Chefin und ihren ebenso schwatzhaften Zwillingsschwestern Mona und Fiona. Es gibt kaum ein Thema, das unbeehrt bliebe und gern dürfen dabei alle mithören. Wozu schließlich ist man Chefin, oder Chefinnengeschwister. Juristisch relevante Nachrede wird freilich lieber hinter dem Rücken in Umlauf gebracht. Dass jemand Drogen nehme, zum Beispiel. Meinen Augen sehe sie an, dass ich Drogen nehme, sagt sie vor versammeltem Publikum, sobald ich außer Hörweite bin. Darf sie das? Nun, wer wollte ihr dieses Unrecht nehmen. Haben wir einander zu tief in die Augen gesehen? Nun, wer wollte dieses Recht uns nehmen. Doch Leoparden küsst man nicht – wie schon Cary Grant es zu wissen lernte, 1938 in der Screwballkomödie Bringing Up Baby.

Glauben Sie mir bitte, dass ich sogar Verständnis aufbringe für jene üble Nachrede, denn Madame Groll ist in einem autoritären Unrechtsstaat großgeworden und muss diesbezügliche Kompetenzen heute unter verschärften Wettbewerbsbedingungen anbieten. Im Übrigen geht auch die Polizei bei jeder Kontrolle meiner Person davon aus, auf Spuren von Alkohol und Drogen zu stoßen. Fündig geworden ist sie nie und das ist auch kein Wunder, denn ausgerechnet ich habe tatsächlich noch nicht ein einziges Grämmchen Droge konsumiert und den Genuss von Alkohol immer schon gemieden. Zumindest unter diesem Gesichtspunkt wäre ich höchstgeeignet, am Hindukusch zu kämpfen, schon um gegen den Opiumanbau zu intervenieren; vielleicht mithilfe einer Division Leopard-Panzern alles plattwalzen, oder ausreichend Napalm abwerfen.

Afghanistan bietet viele Möglichkeiten, sich auszutoben. „Hast Du jemand umgebracht?“, möchte Krankenschwester Andrea aus Flensburg wissen. Doch der Soldat weiß es nicht, denn die Waffen reichten weit. Eine Explosion hat ihm eine Speiche aus dem Arm gerissen und seine Haut verbrannt. Dennoch, in Somalia war es schlimmer, sagt er. Dort sah er Frauen mit zerstoßenem Unterleib, ins Koma vergewaltigt, und Milizen, die willkürlich in die Menge schossen, Kinder mordeten. Zu gern nur hätte er das Feuer erwidert. Darf er das? Nein, er war dort, um James Bond zu spielen, sich abzuseilen auf Handelsschiffe, und für Übungssprünge bei Nacht, in Phosphorträume – das Großartigste, was er je erlebt hat, abgesehen von seiner kleinen Tochter.

Im Golf von Aden die Handelsschiffahrt zu sichern, musste dem blutjungen Unterfeldwebel genügen. Sein Camp in Afghanistan wurde bis zu fünfzigmal beschossen, täglich. Heilfroh sei er, keinen Knacks davongetragen zu haben. Viele seiner tödlichen Kollegen hatten weniger Glück. Hätte er gewusst, wie der Krieg sein würde, wäre er nicht hingegangen, sagt er. Das schnelle Geld aber hatte ihn gelockt. Der Sergeant in der zweiten Reihe nickt vielsagend, der Syrer in der dritten lupft seinen Pullover, eine Schusswunde kommt zum Vorschein. In Syrien war er dem Geheimdienst verpflichtet. Nach nunmehr drei Wochen im Groll-Haus tritt der gelernte Scharfschütze einen Job in der Berliner Wurstfabrikation an; von jeher eine „interessante“ Konstellation – ein Mohammedaner im Paradies des Schweinefleisch. Der Sergeant möchte wieder als Koch arbeiten und Schuhe tragen wie meine, ohne gemustertes Fell, ohne Tarnung, und der Syrer hofft auf Frieden, einfach Frieden nur. Doch der liegt begraben unter Drohungen, und die, die ihn begruben, tragen selbst schwer an ihnen.

Madame Groll hat daher beschlossen, für den Rest des Jahres Urlaub zu nehmen, offiziell aufgrund von Rückenleiden. Zwölf Jahre Simulation hat sie hinter sich gebracht. Also bitte, wer bräuchte dann keine Verschnaufpause! Sicher ist: Ihre erdreistlichen Schergen werden den Laden auch ohne sie schmeißen; ausreichend Steuergeld hat sich jedenfalls zusammengefunden, und an „Kunden“ wird es dem Tollhaus ohnehin nie mangeln.

Und im nächsten Jahr? Da geh ich auf Safari – mit Madame Groll auf Leopardenjagd. Wenn ich einen schieß, kriegt sie ’ne Prämie. Von uns beiden ist sie eindeutig die bessere Geschäftsfrau. C’est la vie, meine Lieben.

Eine lange Ausführung von gar nichts

Noch unentschieden, ob „Eine kurze Einführung in die Onanistik“ von Sebastian Lang und Leo van Kann als männlich-juveniles Versuchsscheitern oder eher als abendraubendes akademisches Gewichse in die Geschichte der Langeweilekunst einzugehen vermöge – im dümmsten Fall wohl beides –, beschließe ich nun hiermit, über diese ganze Sache Stillschweigen zu bewahren. Amen.

Oder man ersetze „Ein-“ durch „Irre-“ und nehme es wie es ist.

„Eine kurze Einführung in die Onanistik wartet mit zwei hyperperformativen Performern auf, einem tragischen Sportstar, dem ältesten Jogger Deutschlands, und einem Jungschauspieler, der sich im Netz der Authentizität verfängt.

Die abendfüllende Zwei-Mann-Show ist eine unwissenschaftliche Revue mit echtem Forscherinteresse, eine intelligente und überraschende Auseinandersetzung mit Glanz und Tragik des sich ganz in nur eine Tätigkeit einsam verstrickenden Menschen. Und ist ganz nebenbei auch eine Auseinandersetzung mit dem völlig getrennten und widerspruchslosen Nebeneinander unterschiedlichster kultureller Nischen in der westlichen Hemisphäre…

Soviel wissen wir: Onan ließ seinen Samen auf die Erde fallen, statt nach göttlichem Plan ein Kind damit zu zeugen. Klarer Vorteil für Onan, der seiner Tätigkeit nachgehen konnte wann immer er wollte, unabhängig von anderen Menschen, Frau oder Mann. Dies aber erzürnte Gott: Er hatte die Menschen extra alle möglichst unterschiedlich designt und wollte, dass sie einander in den vielfältigsten Konstellationen möglichst oft begegneten und sich dabei aneinander und nicht nur an sich selbst erfreuten. Er benannte das 21. in Das Onanistische Jahrhundert um und strafte dessen Bewohner mit einem Leben, das dem des Onan von Jahr zu Jahr mehr ähnelte. Und dabei ging es weniger um Sex. Die Leute taten einfach alles nur noch alleine oder mit Leuten, die genauso waren wie sie und das genau Gleiche wollten. Sie gingen zum Beispiel dauernd alleine joggen, verreisten anstatt mit ihren Freunden bloß mit ihrem Rucksack oder veranstalteten Performances, deren einziges Thema die Performance selber war. Nichts kam dabei heraus und die Menschen nicht zueinander. Und so beschloss Gott, mal wieder ins Theater zu gehen: unter Menschen.“

Das beständige Unverständnis der Welt

Folge 1.443

Berlin Moabit, Spätherbst 2012.

Der brandenburgische Kompetenzspezialist Irmbert Stürmer betritt den Raum. Eigentlich ist es eine Baracke. Fauliger Geruch, Wände dünn wie Papier, an der Decke Schimmelwuchs. Elektroradiatoren überhitzen das Betriebsklima. Die ausnahmslos unfreiwillig anwesenden Damen und Herren schauen lustlos ins Antlitz des kompetenten Spezialstrategen. Stürmer sieht in die müden Gesichter der Versammelten, fragt: „Wer ist denn Ostprinzessin?“. Dabei lässt er einen zunächst diffusen Unterton anklingen. Ein geheimnisvoller Herr in der dritten Reihe dreht sich um. Neugierig-spitzbübisches Lächeln auf den Lippen verrät seine Absicht. Mit freundlicher Geste weist er auf ihre Person.

Für den laut Selbstbeschreibung in „Fairness, Vertrauen, Respekt“ geschulten Kommunikator Stürmer jedoch steht bereits fest: „Das wäre nicht mal mehr einer Werbeagentur seriös genug!“ Für mich steht fest: Wenn ich hier raus bin, schreib ich ’nen Artikel. Dass ich mich dann hoffentlich nicht an Stürmers Rat erinnern werde, denke ich noch und gehe. „Nichts Politisches! Das führt zu Irritation.“, riet der Experte.

Versteckt in der letzten Reihe sitzt eine verschüchterte Westfälin türkischer Abkunft und blättert in Erich Fromms „Die Furcht vor der Freiheit“. Vielleicht träumt sie, im Olympiastadion vor 75.000 Zuhörern zu lesen. Zwischendurch würde gewiss die eine oder andere Band spielen. Ob sie den Stürmer denn wenigstens als Schlagzeuger engagieren würde, möchte ich sie fragen. Doch dann fällt mir die Antwort selber ein.

Stürmer schreitet die Reihen ab. Als er hinter mir steht, zieht er an meinem rechten Ohr. Er tut solche Dinge, um Sachverhalte zu illustrieren, nehme ich an. Darf er das? Wer wollte ihm dieses Recht nehmen. Da klingelt das Telefon. Madame Groll, der Boss. Für manche eine Schrecksekunde. Aber die Chefin ist bester Laune. Zur Feier des Tages erhalten alle Freigang, die später belegen können, dass sie die Freiheit nicht in ihrem Sinne genutzt haben.

Ich sehe hinaus. Das Fenster erscheint mir vergittert. Draußen wogt ein Birkenwäldchen. „Ein Messer sollte ich nehmen, einfach zustechen – darf ich das?“, träumt verletzte Seele, fragt die letzte Ehre, in letzter Achtung vor sich selbst. Wer wollte dieses Unrecht ihr nehmen.

Doch die Exklusion würde meine persönliche Integrität infrage stellen.

Ostprinzessin

Dance! Copy! Right?

Ein präzis choreografiertes dokumentar-satirisches Tanz- und Singschauspiel zum Thema Urheberrecht, mit einigem Mut zu Absurdität und Groteske; dennoch: ein unzureichendes Thema, unzureichend beforscht. Gleichwohl: Die Darsteller höchstzufrieden, das zahlreiche Publikum in vergnüglichem Begeisterungssturm.

Philosophischer Glanz des Abends:
„Das Wunder des Denkens ist es eben gerade, dass es sich von selbst ereignet, das heißt, es ist ohne Ich.“

„Ab wann ist eine Bewegung wirklich meine und ab wann wird diese Bewegung Kunst? Das Gesetz schützt nur die Schrittkombination aber was ist mit dem Kontext oder wenn keiner tanzt? Was wäre denn der kleinste Baustein einer Schrittkombination? Ist eine einzelne Bewegung vergleichbar mit einer Note? Kann es im Tanz eigentlich eine echte Kopie geben? Wie unterscheidet sich ein und dieselbe Bewegung wenn sie vo verschiedenen TänzerInnen ausgeführt wird? Und was hat die Musik, was wir nicht haben?

Das Stück „Dance! Copy! Right?“ basiert auf einem konkreten Urheberrechtstreit am Landgericht Nürnberg/Fürth zu dem Christoph Winkler als Sachverständiger geladen war. Ausgehend von dieser Gerichtsverhandlung werden grundsätzliche Probleme und Fragen des Urheberrechts und des geistigen Eigentums behandelt.“

Im Theaterdiscounter, Klosterstr. 44, Berlin Mitte.

Klangerhoffen

Berlin. Zu einem mehrstündigen musikalischen Stelldichein fanden sich Gesangsschülerinnen und schüler der Musikschule Fanny Hensel im Puttensaal der Bibliothek am Luisenbad ein. Als Moderatorin der liedhaften Lustbarkeit konnte Carmen Nebels heimliche Zwillingsschwester Ines Paschke – die Bereichsleiterin der Musikschule – gewonnen werden. Dass dies für die Veranstaltung einen wirklichen Gewinn bedeutete, entzieht sich eines leisen Zweifels nicht.

Gänsehaut bereitend verlief der Auftritt von Han-na Byun, die auf buchstäblich atemberaubendem Niveau in berührend warmer Klangfarbe die Arie der Mimi aus der Oper La Bohéme darbot. Von ihr werden wir im längst angebrochenen asiatischen Weltzeitalter hoffentlich noch einiges zu hören bekommen.

Auch Charmeur Gilles Le Leuch vermochte als Graf Ollendorf das Publikum in den Bann einer unbändigen Leidenschaft zu ziehen. Ein Schülerinnenduo versuchte sich durchaus laudabel an Pergolesis fulminantem Stabat Mater, vermochte bei aller Tapferkeit jedoch die außergewöhnlich flirrend-melancholische Kostbarkeit des Werks nicht zu entfalten. Etwas weniger hoch gepokert hatte Hannes Diedrich, der daher sicheren Fußes Schuberts Winterreise antrat; versierte Begleitung fand er im 17-jährigen Schwennickebruder Richard, den er als Pianist gewinnen konnte.

Die wohlklingende Bassstimme von Andreas Künkel verschaffte sich mit der Arie „Wer ein Liebchen hat gefunden“ leichtes Spiel und betörte ihre Zuhörerinnen. Als wenig bezaubernd entpuppte sich Jakob Mayers Eigenwerk „Der ganze Plunder“, zu welchem Mayer sich an der Gitarre begleitete. Einigermaßen enttäuschend verliefen die Auftritte der Stimmbanditen unter der Leitung von Andreas Brauer. Vollkommen unterspannt und in gänzlich unangemessene Belanglosigkeit fehlgeleitet intonierte die Bande u. a. die bekannten Popklassiker „In the Ghetto“ und „Shame, Shame, Shame“. Auch die Formation MoaBeatBox vermochte mit ihrem Wise Guyes-Titel „Du bist dran mit Spülen“ kaum zu überzeugen. Überraschend schön hingegen geriet Lisa Voß‘ Interpretation des Welthits „Someone like you“ von Adele. Die noch kindhafte Nachwuchssängerin gehörte ohne Frage zu denjenigen, die sich an ihrer Titelauswahl nicht verhoben.

Der Glanz des zahlreich erschienenen Publikum changierte von bildungsbürgerlicher Hochnäsigkeit über kleinbürgerlichen Opportunismus und wahrhafte Herzlichkeit bis hin zu großbürgerlicher Demut. Im Verlauf des Abends erlöste sich die überspannte Atmosphäre im Lauffeuer kollektiver Klangträume. Okay, das jetzt war ge… . C’est la vie.

Für die Klang(t)räume am laufenden Stimmband sorgten: Die Stimmbanditen, Charlotte Schorle, Carola Schloicka, Sophie Gaffrontke, S. Holtz, Lisa Bromber, Susan Scheikh, Andreas Künkel, Hannes Diedrich, Richard Schwennicke, Jana Schmidt, Gabriele Segeritz, Sabrina Leibenatus, Michaela Mai, Sophie Amanda Soerensen, Han-na Byun, Gilles Le Leuch, Giulia Mirto, Chiara Mirto, Melina Brett, Birgit Hensel, Leontina Vujicic, Daniela Zourabian, Eva Meiserhahn, Jakob Mayer, Johannes Richter, Josefine Jacob, Lisa Voß, MoaBeatBox sowie die Lehrkräfte Barbara Fischer-Gerlach, Annette Goldbeck-Löwe, Leonie Gruner, Sylvia Krüger, Ute Sturm, Matthias Klünder, Volker Schnier und Berthold Kogut.

Das letzte Lied

Wahrhaft vortreffliche Umsetzung von Jeff Zach, berührend melancholisch, punktgenau, verwandlungsstark! Im Theaterdiscounter, Klosterstr. 44, Berlin Mitte.

„Manchmal, wenn wir Glück haben, blühen kurz vor dem Tod von Menschen ihre Lebensgeister noch einmal auf, oft um ein altes Geheimnis zu lüften oder eine verloren geglaubte Geschichte zu erzählen.

Zwei solche unvergesslichen Erlebnisse hatte der Schauspieler Jeff Zach als Zuschauer. Erlebnisse, die ihn nicht mehr losgelassen haben, die vor allem in ihrer Verknüpfung etwas fast Mythologisches bekommen. Das eine Mal trug sich vor fast dreißig Jahren in einem Gefängnis in den USA zu, wo ein Mörder am Abend vor seiner Hinrichtung ein bizarres Abschiedskonzert gab; das andere Mal vor drei Jahren, als in einem Altenheim für Künstler in Österreich ein über neunzig Jahre alter Begräbnisviolinist eine unglaubliche Beichte ablegte.

Jeff Zach wird diese beiden Erlebnisse vor Publikum wiederbeleben. (…) Unbeirrbar im Sammeln ungeheuerlicher Chroniken von obskuren Grenzgängern und Randexistenzen mitten unter uns, präsentieren Meyer&Kowski ein Diptychon in zwei Figuren, zwei Variationen über die Frage: was bleibt, wenn ich gehe?“