Atmen im Gegenwind
Da zieht jemand aus dem in jeder Hinsicht kühlen Nordwesten ins vielversprechende Berlin, statt seinem Liebhaber in eine beschauliche Stadt an der Mosel zu folgen. Doch auch die Hauptstadt hält nicht, was sie zu versprechen schien. Ihre Stadtplanung und Architektur sind für gewinnorientierte Investoren käuflich, das horizontale Gewerbe jeder Couleur ist überall präsent, der Rest oberflächlicher Spaß. Zum Glück eröffnen Diskotheken und Kontaktportale des Internets zusätzliche Möglichkeiten und Perspektiven. „Hoffnung spielte mit, jedes Mal, dass ein Prinz mich fand im Samstagabendland und mit sich nahm in seinen Morgen, lebenslang“, sinniert der als East Princess signierende Ich-Erzähler.
So ranken sich denn um den roten Faden einer Drei-Tage-Affäre mit dem extra aus Süddeutschland angereisten Nono zahlreiche weitere – erinnerte oder erträumte – Erlebnisse analoger oder digitaler Art. Es treten unter anderem auf: ein Jugendfreund, der anstelle der Eltern die Aufklärungsarbeit übernommen hatte; ein kussfreudiger schweizerischer Jungunternehmer; die erst zärtliche, dann unerbittliche, später als transsexuelle Yvonne sich präsentierende erste Liebe; ein etwas punkiger Migrant; und eben Nono. Diese „Nonovelle“ ist ein anregender Berlin-Roman. Ausgehend von einem Date, führt er uns tagelang quer durch die Stadt und ihre Überraschungen. Dabei treten ihre vielfältigen Facetten, aber auch Einsamkeit, Hoffnung, Liebe und Enttäuschung hervor. Denn „Enttäuschung ist der Lohn der Erwartung“. Allerdings handelt es sich nicht um die übliche Liebes- oder Dreiecksgeschichte in der millionundeinsten Variante. Man hat eher eine vielseitige polyamouröse Erzählung vor sich. Das Erlebte gibt sie sprachlich geschickt wieder und nimmt es zugleich selbstkritisch unter die Lupe: „Kopfmenschen sind selten da, wo sie gerne wären, außer in ihrer Fantasie“.
Nur zu sagen, das Buch sei spannend und humorvoll geschrieben, wird der Eigenart des Stils nicht gerecht. Die treffend gewählten Formulierungen sind auch poetisch, manchmal märchenhaft und vielfach entlarvend oder erhellend („Sex: ein permanentes Angebot, gewissermaßen penetrant“). Ein besonderer Kunstgriff des Autors sind die zahlreichen Anspielungen auf Liedtexte, die Ähnliches thematisieren – von Shakespeare bis Cora Frost, von „Wishin‘ and hopin‘“ bis „Schade, schade“. Und gegen Ende die Einsicht: „Nur ein Stück ins Glück und zurück. Die Welt steht uns offen. Wobei wir selbst die Welt sind, die es zu öffnen gilt.“
wilhelm
East Princess: Atmen im Gegenwind. epubli, Berlin 2017. 303 Seiten. ISBN: 978-37450-39368. 12,90 €