Theatersport im Chamäleon.
Du bist nicht allein
Es erscheint simpel: In der Bar jeder Vernunft singt die französische Sängerin Mouron. Ausgerechnet heute aber schwingt sie sich darin zu herzerweichender Schönheit auf. Ihre Interpretationen des großartigen Jaques Brel rahmen persönliche Erinnerungen und rührende Anekdoten. Begleitet wird sie vom elysäischen Spiel des überaus einfühlsamen Pianisten Terry Truck. In der intimen Atmosphäre des alten Spiegelzelts der Bar jeder Vernunft, beheimatet auf einem Parkhausdeck im mitunter biederen Bezirk Wilmersdorf, entwickelt die zierlich gewachsene Mouron einen berückenden Zauber im Geiste vollkommener Liebe, der sich mir als sagenhaft und unergründlich darstellt.
Eigentlich jedoch beginnt die Geschichte unserer Begegnung in einem der kalten Korridore der nahegelegenen U-Bahn-Station. Ich treffe auf ein hochgewachsenes, sonderbares Wesen, welches in einen überaus unförmigen, dunklen Mantel gehüllt ist und unter dunklen Haaren, durch dunkel umrandete Brillengläser zu mir hinunterschaut, als ich Dich dort auffinde. Beeindruckender Bildung gewiss und fragwürdiger Halbbildung unbewusst, legt das unstete Geschöpf so nebenbei wie offenbar einige Verhaltensschwierigkeiten an den Tag: Seltsam verunsicherte, schnell weichende Blicke und plötzliche Distanzierung bedeuten seinen verschrobenen Charakter. Findet sich unter der gefühlsabweisenden Rüstung etwa zarte Schüchternheit und liegen tief darunter die ganz großen Gefühle verborgen?
Ihr müsstet es heute sehen – hübsch, selbstbewusst und vital streift es durch seine Welt, durch eure und durch meine; an jenem Abend hätte man das noch kaum für möglich zu halten vermocht. Ein paar Tage später treffe ich es zufällig an einer Straße in der Spandauer Vorstadt, nebst zweier anderer dunkler Gestalten. Unvergleichlich seltsam erscheint mir sein Gebaren, wie hysterisiert dreht es um die eigene Achse, als es sich schließlich von mir verabschiedet. Zuvor hatten wir im selben Restaurant gesessen, ohne dass ich dies bemerkt hatte, obschon ich in einer dunklen Ecke des Anna Koschke eine dunkle, Hut tragende Gestalt wahrgenommen hatte – einen seiner Begleiter.
Nur wenige Zeit später folgt eine Einladung zum Essen im trauten Heim. Das Vertrauen rührt mich; es markiert den Beginn meiner Ahnung, dass dieses Geschöpf mein Leben für immer verändern werde. Nachdem ich mittlerweile ein halbes Jahr in Berlin verbracht habe, mutterseelenallein, liegt vor mir nun die Welt. Zur wahren Geschichte dieses Herzensbundes gehört auch, dass wir am gleichen Tag in die Stadt zogen, Du in den Westteil, ich in den Osten – vielleicht lag ein bestimmter Zauberspruch in der Berliner Luft.
Dass wir uns fortan beinahe täglich sehen und an manchem Tage auch zweimal, erscheint uns selbstverständlich. Was seien wir den Gesetzen von Raum und Zeit schuldig? Nichts. Unsere Kultur hat recht bald eine eigene Sprache hervorgebracht, und da eine gemeinsame Kultur nicht mit der Sprache endet, sondern mit ihr erst beginnt, in hoher Reife zu gedeihen, ist seither vieles hinzugewachsen, das den Kulturerfolg wahrt – und so wir diese Kultur pflegen, wird sie erblühen in immer neuer Gestalt und unsere Heimat sein.