Das Familientreffen im wohl wunderbarsten kleinen Saal der Stadt beginnt um 7. Um Viertel nach ist der Saal voll.
Familienvorstand Cora Frost zückt ihr Handtaschenmegaphon, Mikrophone gibt es keine. Es wird bald losgehen! Um ihren Tisch herum, in Frostsche Umarmung gekuschelt, sitzen vorwiegend 60 bis 90-jährige Männer, ihre etwas manische Cousine Chou Chou und ihr auf die schiefe Bahn geratener Vetter Gary Schmalzl. Frau Heinz, der älteste von ihnen, trägt zum weißen Rauschebart ein langes Paillettenkleid, das den Oberkörper nur teilweise zu bekleiden vermag. Später wird Frau Heinz ein kleines Gedicht zum Besten geben, Andere werden den Frühling herbeitanzen oder kleine, selbstgestrickte Lebensphilosophien verkünden.
Neben einigen ferneren Verwandten werden auch noch andere Menschen, Pflanzen und Sensationen auftreten, doch zuvor wird sich Cora Frost selbst als das zeigen, was sie in allererster Linie immer schon ist: Ein Wundertier.
Ihr erster Ton einer Hommage an Berlin – „Berlin liegt am Meer“ – fesselt uns fassungslos verzückt und beglückt weinend an den Stuhl, an unsere Stadt und an die Frostschen Lippen. Im späteren Verlauf des Abends dürfen diese tatsächlich geküsst werden: Einige Frauen und auch ein paar Männer nutzen die einmalige Chance, damit vielleicht direkt vom Wundertier-Zauber infiziert zu werden.
Ist sie eine kranke Besessene in superkurzem Hurenhochzeitskleid und Perücke? Ist die Punk-Chansonniere und Rocklady Cora Frost vielleicht die letzte Poetin, die echte Gefühle, echten Wahnsinn, musikalische Avantgarde und Performancegenie miteinander zu verknüpfen und die Grenzen des Gewohnten in all diesen Bereichen zu sprengen vermag? – Wer kann das wissen! Vielleicht die knapp 150 Familienangehörigen, deren Jubel an die Begeisterungsstürme Tausender erinnert? Cora Frost ist kein Geheimtipp, sie ist die Patronin der Unheimlichen und sie ist unheimlich menschlich für einen vom Fernsehturm gefallenen Engel.
„Die Liebe hat ja nur einen Anfang und kein Ende.“