Das beständige Unverständnis der Welt

Folge 1.443

Berlin Moabit, Spätherbst 2012.

Der brandenburgische Kompetenzspezialist Irmbert Stürmer betritt den Raum. Eigentlich ist es eine Baracke. Fauliger Geruch, Wände dünn wie Papier, an der Decke Schimmelwuchs. Elektroradiatoren überhitzen das Betriebsklima. Die ausnahmslos unfreiwillig anwesenden Damen und Herren schauen lustlos ins Antlitz des kompetenten Spezialstrategen. Stürmer sieht in die müden Gesichter der Versammelten, fragt: „Wer ist denn Ostprinzessin?“. Dabei lässt er einen zunächst diffusen Unterton anklingen. Ein geheimnisvoller Herr in der dritten Reihe dreht sich um. Neugierig-spitzbübisches Lächeln auf den Lippen verrät seine Absicht. Mit freundlicher Geste weist er auf ihre Person.

Für den laut Selbstbeschreibung in „Fairness, Vertrauen, Respekt“ geschulten Kommunikator Stürmer jedoch steht bereits fest: „Das wäre nicht mal mehr einer Werbeagentur seriös genug!“ Für mich steht fest: Wenn ich hier raus bin, schreib ich ’nen Artikel. Dass ich mich dann hoffentlich nicht an Stürmers Rat erinnern werde, denke ich noch und gehe. „Nichts Politisches! Das führt zu Irritation.“, riet der Experte.

Versteckt in der letzten Reihe sitzt eine verschüchterte Westfälin türkischer Abkunft und blättert in Erich Fromms „Die Furcht vor der Freiheit“. Vielleicht träumt sie, im Olympiastadion vor 75.000 Zuhörern zu lesen. Zwischendurch würde gewiss die eine oder andere Band spielen. Ob sie den Stürmer denn wenigstens als Schlagzeuger engagieren würde, möchte ich sie fragen. Doch dann fällt mir die Antwort selber ein.

Stürmer schreitet die Reihen ab. Als er hinter mir steht, zieht er an meinem rechten Ohr. Er tut solche Dinge, um Sachverhalte zu illustrieren, nehme ich an. Darf er das? Wer wollte ihm dieses Recht nehmen. Da klingelt das Telefon. Madame Groll, der Boss. Für manche eine Schrecksekunde. Aber die Chefin ist bester Laune. Zur Feier des Tages erhalten alle Freigang, die später belegen können, dass sie die Freiheit nicht in ihrem Sinne genutzt haben.

Ich sehe hinaus. Das Fenster erscheint mir vergittert. Draußen wogt ein Birkenwäldchen. „Ein Messer sollte ich nehmen, einfach zustechen – darf ich das?“, träumt verletzte Seele, fragt die letzte Ehre, in letzter Achtung vor sich selbst. Wer wollte dieses Unrecht ihr nehmen.

Doch die Exklusion würde meine persönliche Integrität infrage stellen.

Ostprinzessin

5 Antworten auf „Das beständige Unverständnis der Welt“

  1. Guter Text:

    Satire ist eine Präsentation, die die Wirklichkeit durch Überzeichnung in ihren
    Mechanismen kenntlich macht.
    Wieder ein eindrücklicher Bericht, der anschaulich macht, warum wir das bedingungslose Grundeinkommen brauchen, anstatt Geld für autoritäre Zurichtung
    der Gesellschaft auszugeben!

    Viel Glück !

    Ruth

    1. Liebe Ruth, vielen Dank, und ja, bedingungslose Existenzsicherung wäre zumindest eine Achtung der Unantastbarkeit der Würde und damit eine wirkliche zivilisatorische Errungenschaft.

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