Religion + x = Angst und Elend

Ich hätte gern eine Welt, in der das Ziel der Erziehung geistige Freiheit wäre und nicht darin bestünde, den Geist der Jugend in eine Rüstung zu zwängen, die ihn das ganz Leben lang vor den Pfeilen objektiver Beweise schützen soll. Die Welt braucht offene Herzen und geistige Aufgeschlossenheit, und das erreichen wir nicht durch starre Systeme, mögen sie nun alt oder neu sein.

Die Religion stützt sich vor allen und hauptsächlich auf die Angst.

Ich betrachte die Religion als Krankheit, als Quelle unnennbaren Elends für die menschliche Rasse.

Ich bin ebenso fest davon überzeugt, dass die Religionen Schaden anrichten, wie davon, dass sie unwahr sind.

Bertrand Russell
in Warum ich kein Christ bin

Mustermesse im Theaterdiscounter

Zur sogenannten Mustermesse 2, zu der neben Antrags-Veteranen wie der Absageagentur, die auf Annoncen von Unternehmen mit Absagen reagiert, auch die Bergpartei und die Sängerin wie Aktionskünstlerin Bernadette La Hengst eingeladen sind, spielt auch ein reißender Act aus Berlin: Nachlader.

Leider hat es von und für Nachlader keine Werbung für diesen Abend im Theaterdiscounter gegeben, so dass Nachlader, wie immer mit Serge Kool, vor einem kleinen und zurückhaltenden Publikum auftreten müssen und leider auch die Akustik so mies ist, dass der Wortwitz und die exakt produzierten Elektrosounds, die mit eindringlichen Beats daherkommen, hinter den eigentlichen Möglichkeiten weit zurückbleiben.

In den nächsten Tagen wird der „Sprengantrag“ vorgestellt, der aus einer Sammlung abgerissener und abrissbedrohter Gebäude besteht und gleichzeitig ein Manifest des Widerstands ist.

Adrienne Goehler, die ehemalige Kultursenatorin von Berlin, die als Chefin des Hauptstadtkulturfonds wahre Wunder vollbracht bwz. finanziert hat und die eine glühende Verfechterin des Palasts der Republik ist, wird aus ihrem Buch vorlesen, das sich mit Visionen für eine menschlichere und von Kultur bestimmten Gesellschaft beschäftigt und das auch klare Forderungen nach einem bedingungslosen Grundeinkommen enthält und begründet.

Die Mustermesse verspricht also spannend zu werden und positive Sprengkraft zu versammeln, bei der sich die widerständigen Menschen in der Gesellschaft konkrete Bespiele an- und abschauen können und bisher Unbeleckte vielleicht Anhaltspunkte erhalten.

Mustermesse 2 Messe für Antragskultur Messeplan Nachlader mit Serge Kool

Zwangsarbeit mit Olga Benario

In der Galerie Olga Benario in Neukölln wird heute ein Film über Zwangsarbeit im Dritten Reich gezeigt. Der Film beschäftigt sich neben dem kollektiven Schicksal Abertausender vor allem auch mit Einzelfällen, bei denen die Betroffenen selbst zu Wort kommen.

Die kleine Galerie zeigt vor allem Antifa-Ausstellungen und bietet reichhaltige Informationsmöglichkeiten. So werden in der derzeitigen Kunst-Plakat-Ausstellung aktuelle Verschlechterungen wie die fortschreitende Entrechtung in Arbeitswelt und Gesamtgesellschaft thematisiert, und glücklicherweise wird nicht darauf verzichtet, die Schuldigen zu benennen.

„Rettet den Reichtum“: Texte, Collagen und Montagen zur Politik des globalen Kapitals. Eine Ausstellung der Arbeiterfotografie. In den Veranstaltungen geht es um die Geschichte des „Arbeitszwangs“, von den ersten Arbeitshäusern über Notstandsarbeit, Arbeitsdienst, Zwangsarbeit, bis zum aktuellen Ein–Euro-Job.

„Ich habe für das Richtige, das Gute, das Beste auf der Welt gekämpft.“

(Olga Benario)

Galerie Olga Benario

Überraschung im Café Kranzler

Das Café Kranzler ist Inbegriff westdeutschen Wirtschaftsaufbaus, der in den 50er Jahren in der Wiederbelebung der Flaniermeilen am Kudamm seinen Ausdruck fand. Das schon damals traditionsreiche Café Kranzler wurde zu jener Zeit in seiner heutigen Erscheinung errichtet. Es gilt als teuer aber lohnend und ist ein Markenzeichen der Westberliner Kaffeehauskultur.

Lange haben wir gezögert und Vorfreude für den Besuch des Café Kranzler aufgebaut. Was uns dann im Rund des Cafés erwartet, lässt sich in etwa so zusammenfassen: Eine Enttäuschung nach der anderen. Zunächst noch scheint alles gut zu werden. Die Auslage bietet über fünfzehn verschiedene Torten und Kuchen, wenn auch keinen Streuselkuchen. Wir setzen uns auf die berühmte Terrasse und genießen den Blick ins Werbe-Eldorado der City West. Von überall her drängen sich Werbelogos bekannter und weniger bekannter Unternehmen auf, seit kurzem sogar vom Dach des denkmalgeschützten Hochhauses am Zoo, wo nun eine stadtweit sichtbare Bayer-Reklame installiert wurde.

Als nächstes fällt auf, das Tische und Porzellan nicht zusammenpassen und die charakteristischen rot-weißen Geranien zwar herrlich anachronistisch wirken, jedoch die ansonsten stillose Dekoration nicht aufwiegen können. Die Preise sind wie erwartet hoch, die Bedienung unerwartet unherzlich und desinteressiert.

Der Kuchen wird in ungewohnt kleinen Stücken serviert, lässt sich aber auch nur mit Mühe genießen. Nach alter Tradition, die heute unüblich – mit Recht, möchte man sagen – geworden ist, werden die Kuchen mit reichlich Buttercreme angerichtet, lassen aber leider jeden Hinweis auf gelungenes Konditorei-Handwerk vermissen. Es scheint so, als seien den immergleichen Buttercreme- und Biscuit-Schichten einfach Aromen beigemischt, die Birne und Mango und dergleichen imitieren. Zur Krönung erhalten die Buttercreme-Häupter obenauf ein matschiges, kleines Stück Frucht aus der Konservendose. Die Getränke sind klein und werden lieblos dargereicht, teilweise nebst verschwindend kleinem, brüchigen Keks. Die Schokolade wird mit billiger Sahne aus der Tube angerichtet, die Schokolade selbst ist zwar nicht einfach ein Kakao, sondern wird aus bitterer Schokolade gewonnen, schmeckt aber nach Automatenware.

Fast ungläubig starren wir am Schluss auf die beinah einzige erfüllte Erwartung: Das Kranzler wird von einer bestimmten Sorte „Wilmersdorfer Witwen“ beehrt: Stolze Nazi-Witwen, die vermutlich im Zweiten Weltkrieg ihre Männer verloren, welche nicht eben selten in höheren Rängen den Terror befehligten. In unsagbar überkommener Kleidertracht, in Buntfaltenrock und gesteifter Spitzen- und Rüschenbluse, sowie in damaliger Frisurenmode, erscheinen sie beim Kaffeekränzchen im abgewirtschafteten Kranzler wie Exemplare eines überkommenen Geistes. Möge ihnen die Buttercreme die Mägen beunruhigen.

Café Kranzler Mitten im goldenen Westen Vielen Dank für Ihren Besuch

Ja, wir Wilmersdorfer Witwen verteidigen Berlin,

sonst wär’n wir längst schon russisch, chaotisch und grün.

Was nach uns kommt ist Schite,

denn wir sind die Elite.

(aus Linie 1)

ANGST

Allodoxaphobie Angst vor einer Meinung
Atychiphobie Angst, Fehler zu begehen
Bromhidrosophobie Angst vor Körpergeruch
Cacophobie Angst vor Hässlichkeit
Decidophobie Angst, Entscheidungen zu treffen
Dishabiliophobie Angst, sich vor jemandem auszuziehen
Frigophobie Angst vor Erkältung
Glossophobie Angst, vor Leuten zu sprechen
Hedonophobie Angst, Freude zu empfinden
Homophobie Angst vor Homosexualität
Isolohobie Angst vor Einsamkeit
Kainolophobie Angst vor Neuem
Katagelophobie Angst, sich lächerlich zu machen
Macrophobie Angst, lange zu warten
Obesophobie Angst vor Gewichtszunahme
Ochlophobie Angst vor Menschenmengen
Osphresiophobie Angst vor Körpergerüchen
Panophobie Angst vor Allem
Sciophobie Angst vor Schatten
Sitophobie Angst vor Nahrung
Tomophobie Angst vor chirurgischen Operationen
Xenophobie Angst vor Fremden
Zelophobie Angst vor Eifersucht

Wenn einer keine Angst hat, hat er keine Phantasie. (Erich Kästner)

„Ich geh am Ende immer leer aus“

Betancorband im Quasi

Die Popette Betancor ist eine Unterhalterin von allererster Güte. Heute präsentiert sie ihre hispanoiden Musik- und Textstücke mit gewohnter Leichtigkeit und angestrengter Choreografie. Denn ja, sie ist ein Clown. Das verraten nicht zuletzt ihre Mimik und die ausgeprägte Unfähigkeit zu geschmeidiger Bewegung. Ihr Tanz wirkt spastisch und oft hilflos und genau damit kokettiert sie und auch dafür lieben wir sie.

Wenn ein Stück am Beginn nicht richtig funktionieren will, wird es kurzerhand gestrichen. Mit eigenen Patzern und kleinen Ausfällen geht die Popette gewohnt souverän um. Sie nimmt sich da nicht zu ernst, ist sich gleichwohl bewusst darin, dass ihre textlichen, musikalischen und kabarettistischen Verkündungen Maßstäbe setzen und die Genres weiterentwickeln.

„Auch Marx und Lafontaine wären an meiner Seite“ singt sie voller Selbstverständlichkeit, doch in ebensolcher augenzwinkernder Hinterlist. Und wenn sie Lust darauf hat, borgt sie sich Lieder von den Sternen (Universal Tellerwäscher) und Madonna (Materialistische Welt).

Susanne Betancor ist immer eine „Kämpfer, Kämpfer, Kämpferin“ gewesen, doch in letzter Zeit gewannen ihre Stücke deutlich an Explizität. Konsequenterweise erfährt das Publikum während einer Überleitung von der paritätischen Veranlagung der Künstlerin. Sie habe das ganze Angebot von Männlein und Weiblein zur Auswahl, könne sich aber gar nicht gut entscheiden. Daher: „Ich geh am Ende immer leer aus.“

Wir dafür niemals.

Popette Betancor im Quasimodo leidenschaftlich

„Wenn Sie mich einladen, komm ich nicht!“

Der NBK lädt zur Diskussion unter dem herbeigekünstelten Titel: „Quo vadis Bethanien?“, Diskussion über die Zukunft des Künstlerhauses Bethanien nach einem Jahr andauernder Besetzung durch Autonome; auf dem Podium: Gerrit Gohlke (Publizist), Karl Heinz Jeron (Künstler), Reiner Maria Matysik (Künstler) und Christoph Tannert, Geschäftsführer der Künstlerhaus Bethanien GmbH.

Doch Letzterer will nicht diskutieren, er will nur beleidigen: „Der Kiezdödel“ schade der „Hochkultur“, pöbelt er, angesprochen auf den Anspruch der IZB (Initiative Zukunft Bethanien), die Anwohner an der Zukunftsgestaltung des Bethanien zu beteiligen, wofür die IZB ein fast 14.000 Stimmen starkes Bürgerbegehren angestrengt hat.

„Soziale Wärmstuben“ gäbe es in Kreuzberg zur Genüge, so Tannert weiter. „Hausbesetzer sind gesetzlos und gehören verfolgt!“ Dass Christoph Tannert dies wirklich ernst zu meinen scheint, überrascht angesichts seiner eigenen, durchaus systemkritischen Biografie. So war ausgerechnet der DDR-Bürger Tannert es, der in der DDR eine Ausstellung über Punk ins Leben rief, die vom Staat äußerst argwöhnisch beäugt wurde. Die im Raum anwesenden Bethanier und ihre Freunde haben denn auch größte Mühe, nicht vor Wut zu platzen. Dennoch aber lässt sich niemand auf das Tannert-Niveau hinunterziehen. Kritische Nachfragen aber tötet Tannert auch weiterhin mit immer neuen Beleidigungen ab – meist rhetorisch geschickt und überlegen.

Muss so viel Arroganz sein? Das wird sich selbst der Künstler Reiner Matysik gefragt haben, der in Tannerts Künstlerhaus eine Ausstellung unter dem Namen „Initiative Zukünftige Lebensformen“ zeigen darf, für die er auch direkt bei den Besetzern im benachbarten Südflügel recherchiert hat. Überhaupt hat er die Besuche in der NewYorck 59, wie der Südflügel seit seiner Besetzung heißt, als angenehm in Erinnerung. In seinem Ausstellungstitel und auf der zugehörigen Website (leider nicht mehr verfügbar) gießt er über den konkreten, klar politischen und sozialen Anspruch der Initiative Zukunft Bethanien – leider von oben herab – einen künstlerischen Zuckerguss, der denn leider auch am künstlerischen Deckmäntelchen kleben bleibt und am Ende etwas unkonkret durch den Kunstraum schwebt. Immerhin aber traut sich Matysik, im offenen Widerspruch zu Tannert zu stehen, während die anderen Diskutanten auf der Schleimspur bleiben, obwohl Tannerts Ausfälle zunehmend unerträglich erscheinen.

Überhaupt kommt die drängende Frage auf, ob der Geschäftsführer des Künstlerhauses für die KünstlerInnen eigentlich tragbar ist. Tannert indes wettert weiter gegen die zukunftsweisenden Lebensformen in seiner unmittelbaren Nachbarschaft – während er sie im Künstlerhaus ausstellen lässt – und begrüßt den Kommentar einer Frau aus dem Publikum: „Der Hass auf die Kunst hat in Deutschland Tradition.“ Hinter dieser Behauptung steht wohl dann auch die Frage: Sind Linke kunstfeindlich? Daher – zur Erinnerung – ein paar der berühmt gewordenen Gegenbeweise: Hanns Eisler, Ernst Busch, Kurt Tucholsky, Heinrich Mann, Oscar Wilde, Käthe Kollwitz und Frances Farmer.

Quo vadis Bethanien?