Heiligendamm: Trauma und Erweckung

Die Sonne scheint ausgiebig, der Himmel ist heiter, die Landschaft wundervoll, und Angst ist ohnehin Deine ständige Begleiterin, und bekanntermaßen ist sie ja ein Überlebensinstinkt. Die Einheimischen erscheinen Dir sympathisch, die Menschen im übervollen Camp mal so und mal nicht so, für die Einsatzkräfte der Polizei gilt dasselbe, und die Lage der Welt ist nicht besser und nicht schlechter als vorige Woche. Doch irgendetwas ist ganz anders in diesen Tagen. Es ist G8 und die Vorsitzende des gerade vorsitzenden Landes hat nach Heiligendamm geladen. Im Zeichen der Angst der Mächtigen gegenüber denen, die zu „ihrer“ Bevölkerung zählen, wurde der Ort eingezäunt. Tausende Kritiker wurden bereits vor den Protesten kriminalisiert. Polizei und Militär sind im Dauereinsatz. Irgendein Gefühl, dass Du noch nicht gekannt hast, hat Dich hierher getrieben. Du wolltest es mittendrin erleben, ohne zu wissen, was das bedeuten würde. Was Du dann tatsächlich erlebt hast, hat Dich in vielerlei Hinsicht tief erschüttert.

Heute, einhundert Tage später, hast Du noch immer das himmlische Geräusch im Ohr, das permanente Kreisen der Helikopter, sobald Du an Heiligendamm denkst. Sie flogen am Tag und in der Nacht. Tagsüber kreisten sie einzeln, zu zweit oder zu sechst über Dir und in den Nächten stand ein Helikopter im Himmel, tief über dem Camp, um halb drei und dann um fünf nochmal, jeweils zehn Minuten lang. Schon den ganzen Tag und die halbe Nacht über waren die Helikopter im Einsatz über dem Camp und um das Camp herum gewesen. Nachts dann riss dies Tausende aus dem Schlaf. Angst und Unsicherheit wichen dem nächtlichen Frieden. Unten – im Zelt liegend – versteht man sofort, was der Zweck und was die Botschaft ist. Das unmittelbare Ziel des Einsatzes ist Folter durch Schlafentzug. Eine Entschuldigung dafür findet sich in Dir auch nach langem Nachdenken und Abwägen nicht. Dieses Zeichen der Erbarmungslosigkeit hat sich tief in Dich eingraviert.

Die enervierende Geräuschkulisse stellt jedoch nur das halbe Vergnügen dar, auch Bilder haben sich in Dich eingebrannt. Nie zuvor hast Du derart viele und aufgeregt hin- und herfahrende und auf allen Wegen, Um- und Unwegen erscheinende Polizeifahrzeuge erlebt, nie zuvor wurdest Du im freien Gelände verfolgt und gejagt, auf den Äckern, an Waldesrändern, auf dem Deich, am Ostseestrand, im Zeltlager, auf der Straße, auf den kleinen Abzweigen, zwischen Schafgeblök und Grillenzirpen, weit vor den Zäunen, Toren und bis an die Zähne bewaffneten Einheiten mit Schießbefehl, die den G8-Tagungsort Heiligendamm wie eine Festung sicherten und kilometerweit gegen jedwede Störung abschirmten. Noch Wochen nach Deiner Rückkehr in die vermeintlich friedsame Heimat siehst Du Mannschaftswagen, vor Dir fahrend oder stehend oder entgegenkommend,  sobald Du die Augen schließt. Das Gefühl dazu legt sich über all Deine sonstigen Empfindungen wie Mehltau. Vor deinen Augenn sind die Bilder präsent, sobald Du an Heiligendamm erinnert bist. Du denkst an den Hass und die Verachtung in den Gesichtern der mit willkürlichen Absperrungen betrauten und vor ihren gewalttätigen Räumungseinsätzen stehenden Einsatzkräfte. Du erinnerst Dich an die Rambos ebenso wie an jene Männer, die dem Anschein nach einer Boygroup hätten entsprungen sein können. Diese Gedanken verdunkeln Dein Gemüt, denn Du denkst an die Selbstverständlichkeit, mit der sie ihren Hass verbal bekräftigten: „Das müssen wir noch alles wegräumen“, sagte der eine und schon warst Du jeglicher Menschenwürde beraubt.

Gemeinsam mit hunderten anderer betrittst Du die idyllische Bühne eines gewaltigen Schauspiels. Du überquerst die sanften Hügel der Sommerwiesen, die in der Sonne leuchtenden Felder, überwindest Stacheldraht und Gräben, änderst Deinen Kurs, sobald Deine Verfolger Dir zu nahe kommen. Am Ende gelangst Du an das Osttor des mächtigen Zauns, der den Ort Heiligendamm weiträumig abriegelt. Immer mehr Menschen gelangen auf provisorischen Wegen an das scharf bewachte Tor. Auf der Zufahrtsstraße versammelt sich die immer weiter anwachsende Menge, informiert und berät sich, hält einander fest. Viele sitzen oder liegen erschöpft auf dem Asphalt. Gelegentlich streifen Einsatzkräfte in voller Montur durch die Masse, um dann wenig später den Rückweg anzutreten. Manchmal preschen sie mitten durch die verunsicherte Menge, andere Male patroullieren sie am Rand. Räumpanzer und Wasserwerfer werden in Stellung gebracht. Aus Megafonen und Lautsprechern tönen strikte Aufforderungen; die Durchsagen werden von Mal zu Mal martialischer.  Zwei Helikopter kreisen bereits seit Stunden über euch. Plötzlich landen im hohen Gras einer angrenzenden Wiese sechs Helikopter. Einsatzmannschaften steigen aus und laufen auf die Menge zu. Ihre Montur, die Schlagstöcke, die lauten Motoren verschaffen sich zweifelhaften Respekt. Doch diesmal blufft die Staatsmacht nur. Nachdem die Kämpfer wieder abgezogen sind, erscheint Kavallerie. In einer Reihe von neun Pferden sitzen wiederum Herren in voller Montur. Und wieder fragst Du Dich, was in den nächsten Momenten geschehen wird. Die Reiter erscheinen Dir bedrohlich, der Himmel trägt Spannung, was währenddessen an den Flanken geschieht, weißt Du nicht.

Aus intellektueller Distanz heraus mag man die gewaltvollen Eingriffe der Staatsmacht als lachhafte Muskelspiele abtun wollen, denn „umso lächerlicher stand sie da mit ihrem überzogen militanten und gewaltbereiten Apparat“, so ein Berliner Kommunikationswissenschaftler. Zum Lachen aber animiert nichts, während sich die unmittelbare Praxis vollzieht. Keiner jener Eindrücke erweist sich als unbedeutend, alles daran ist so bedrohlich und so wesentlich wie es erscheint, wenn Gefahr, Angst und adrenalingeschwängerte Unsicherheit um sich greifen. Und dann kehrst Du mit einem Gefühl heim, das Du vorher nicht gekannt hast, dem Du allerdings zutraust, Deine ganze Existenz verändert zu haben. Denn das war Krieg, ohne Bomben, ohne Schusswaffeneinsatz – fast –, ohne Tote zwar – noch –, doch nichts kann verleugnen: Ein Staat führt Krieg, Krieg gegen Dich, gegen Euch.

Mittendrin wolltest Du sein, ahntest Du ja nicht, was dies bedeuten würde. Eure Bewegung der Bewegungen sahst Du dort, hast sie erlebt, sie verstanden; auch vieles andere hast Du nun begriffen, und lang hast Du gewartet, tief nachfühlend, um von einigen der Vorgänge um Heiligendamm ohne Hass und ohne überzogene Verachtung erzählen zu können.

NO G8 - Spazierengehen im Nachbarort Börgerende Heiligendamm bewachen Willkommen heißen Campen in Reddelich Planen - im Park von Bad Doberan Querfeldein dem Ziel entgegen... Hindernisse überwinden Straßen sperren, hinter den Linien Blockieren, am Osttor Am Zaun filmen, wie man gefilmt wird Der Kavallerie entgegensehen ... und Helikoptern.

Andrej H. dankt für „Zeichen von draußen“

Sein Dankschreiben:

Liebe Kolleg/innen, Freund/innen, Mitstreiter/innen und Unterstützer/innen,

ich habe gestern erfahren, dass der zuständige Strafsenat des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe frühestens Anfang Oktober über die Beschwerde gegen meine Haftverschonung entscheiden wird, weil nach Aussage des Vorsitzenden Richters des 3. Strafsenats möglicherweise rechtliche Grundsatzfragen bzgl. des dringenden Tatverdachtes und zur Anwendung des §129a StGB in dem Verfahren entschieden werden sollen, die einen längeren Beratungsbedarf voraussetzen.

Ich möchte diese Gelegenheit nutzen, um mich auf diesem Wege bei den vielen Unterstützungs- und Solidaritätskreisen zu bedanken, die sich in den letzten Wochen so großartig für meine Freilassung und die Einstellung des 129a-Verfahrens eingesetzt haben.

Bereits wenige Tage nach meiner Verhaftung habe ich über meine Anwältin von den verschiedenen Initiativen erfahren. All die kleinen und größeren Aktivitäten, die in Gang gesetzt wurden, haben mir Kraft gegeben, die Situation der Einzelhaft zu ertragen. Jedes Zeichen von „draußen“, jede kleine Zeitungsnotiz über eine Solidaritätsaktion, jede neue Unterschrift unter den unzähligen Protesterklärungen und jeder Brief, der mich in meiner Zelle erreichte, haben mir gezeigt, dass ich mit meiner Ohnmacht gegenüber den Ermittlungsbehörden nicht allein gelassen werde.

Die Unterstützung von Wissenschaftler/innen, Aktivist/innen, von Gewerkschaften und Sozialen Bewegungen, von Freund/innen, von politischen Stiftungen und Parteien waren von Beginn an so breit und umfassend, dass mit jedem Tag die Hoffnung auf eine schnelle Einstellung der Verfahren gewachsen ist – auch wenn ich natürlich weiß, dass letztlich die Richter/innen in Karlsruhe darüber zu befinden haben.

Mit meiner zunächst fortgesetzten Haftverschonung ist für mich und meine Familie ein wichtiger Teilerfolg erreicht. Bis zur endgültige Einstellung der Verfahren und der Freilassung der anderen Inhaftierten jedoch liegt noch ein weiter Weg vor uns. Ich hoffe dabei auch weiter auf eure Unterstützung.

Andrej Holm

Andrej H. ist vorerst frei, und die anderen?

Wie soeben über seine Anwältin bekannt wurde, ist Andrej H. im Zuge einer Haftverschonung um 13.30 Uhr gegen Kaution aus dem Gefängnis entlassen worden. Die Bundesanwaltschaft hat dagegen bereits Beschwerde eingelegt, über welche heute oder morgen entschieden wird.

Die Linien bröckeln also. Werden bald auch Florian L., Oliver R. und Axel H. freikommen?

„Der Haftbefehl wurde nicht aufgehoben, sondern der Ermittlungsrichter am BGH hat meinen Mandanten nach Zahlung einer Kaution und unter Auferlegung verschiedener Auflagen von der Untersuchungshaft verschont. Dies bedeutet, dass nach Ansicht des Ermittlungsrichters der Fluchtgefahr mit weniger einschneidenden Mitteln als der Untersuchungshaft begegnet werden kann.“

Heute um 18 Uhr vor der JVA Moabit für die Einstellung der Verfahren nach § 129a demonstrieren!

Wie geht es eigentlich den 4 „Terroristen“?

Rechtsstaat adé – aber gab es dich je?

„Den Umständen entsprechend gut“ gehe es Andrej Holm, so seine Anwältin. Ansonsten, so scheint es, lässt sich die Frage nur schwer beantworten, denn Andrej kann aus einer 3 mal 3 Meter großen Luxusherberge in Moabit heraus keinen Kontakt zur Außenwelt aufnehmen – und umgekehrt. Allein die Anwältin kann – äußerst eingeschränkt – mit ihm kommunizieren. Und was sie am Dienstag im New Yorck von Andrej und den drei weiteren Gefangenen zu berichten wusste, das wirft ein hässliches Licht auf das, was wir „Rechtsstaat“ nennen sollen:

Wenn Andrej Liegestütze machen will, um sich die Zeit zu vertreiben oder um sich einfach etwas zu bewegen, dann muss er alle Möbelstücke seiner Zelle umstellen, um genug Platz zu gewinnen. 23 Stunden am Tag bringt er auf engstem Raum alleine zu, 1 Stunde lang darf er in Begleitung im Hof umherlaufen. Einen Sozialwissenschaftler haben wohl auch die wenigsten Gefängnisaufseher je in einer Zelle gesehen. Einer der Wachtmeister fängt an, sich zu interessieren und befragt ihn nun immer mal zu den Tätigkeiten so eines Sozialwissenschaftlers. Eine Wachtmeisterin hingegen macht Stress: Da Andrej seit vielen Tagen unentwegt schreibt, ist sein Kugelschreiber verbraucht. Daher bittet er also die Wachtmeisterin, bei Gelegenheit einen neuen Stift mitzubringen. Sie aber entgegenet: „Stellen Sie einen Antrag!“ Das Problem dabei ist, dass auf diese Weise mit einem neuen Stift erst in Wochen zu rechnen ist.

Auch bei der Darreichung der Getränke gab es Schikanen: Da Andrej die Regeln zur Entgegennahme nicht bekannt waren, hatte er zunächst auf Tee zu verzichten. Da die Gefängnis-Bibliothek leider nur Werke bis 1965 bietet, hat er nun Bücher bestellt. Diese müssen eingeschweißt sein und direkt vom Verlag versandt werden. Die Anwältin zeigt sich überrascht darüber, dass Andrej statt unterhaltsamer Bücher eine schwere Kost bevorzugt und offenbar auch unter den widrigsten Bedingungen noch weiter zu arbeiten versucht. Bislang allerdings ist noch nicht einmal die „Verteidigerpost“ angekommen. Die Mühlen mahlen langsam, alles wird strengstens kontrolliert. Bei den Besprechungen – durch eine Glastrennscheibe hindurch – sitzen neben der Anwältin stets zwei BKA-Beamte, die jedes Wort mitschreiben. Neben Andrej steht permanent ein Wachtmeister. Die Lebensgefährtin wurde gar aufgefordert, lauter zu sprechen und konspirative Gespräche zu unterlassen; sie wisse schon, was damit gemeint sei. Die Mutter dreier Kinder wird Mühe gehabt haben, keinen Nervenzusammenbruch zu erleiden. Ähnlich wohl wird es ihrem einsitzenden Lebensgefährten gegangen sein, bevor er dann am vergangenen Freitag zum ersten und bislang einzigen Male duschen durfte. Das sog. Haftkonto indes hat sich ein wenig gefüllt, nun können auch Radio- und TV-Benutzung bezahlt werden. Der einzige menschliche Kontakt im Gefängnis besteht offenbar zu einem Drogendealer, der bereits seit Jahren dort schmort.

Wenn Andrej am nächsten Freitag zum Haftprüfungstermin mit dem Hubschrauber nach Karlsruhe geflogen wird, dann kann er sich gegenüber so manchem Mitgefangenen noch glücklich schätzen. Seine ansonsten schikanöse Sonderbehandlung als „Terrorist“ hat den Vorzug, dass er nicht auf dem sonst üblichen Weg transportiert und verlegt wird. Das sog. „Kaschuben“ bedeutet, dass die Gefangenen von einem Bundesland ins nächste verlegt werden, bis sie am Ziel angekommen sind. Auf diese Weise machen sie auf ihrer bis zu zweieinhalb Wochen langen Odyssee die Bekanntschaft unzähliger Gefängnisse, samt Personal und Häftlingen.

Die im gleichen Zusammenhang vor zweieinhalb Wochen Festgenommenen – Florian L., Oliver R. und Axel H. – haben bereits bei der ersten Überstellung nach Karlsruhe etwas Denkwürdiges durchlebt: Nach ihrer Verhaftung waren sie entkleidet und in Overalls gesteckt worden, die aus einem Papierstoff bestehen. Diese hatten sie tagelang zu tragen. Als sie dann in zerrissener „Kleidung“ dem Haftrichter vorgeführt wurden, konnte man sämtliche Körperteile sehen. Die AnwältInnen protestierten scharf. Der Richter zeigte ein Entgegenkommen und ließ Kleidung bringen.

Wie aus den 35 großen Leitz-Ordnern hervorgeht, die das BKA zum Fall angelegt hat, geht aus den dort gesammelten Materialien offenbar gerade genau gar nichts hervor, das für eine Anklageschrift auch nur annähernd reichen könnte. Die zunächst befasste Richterin äußerte auf Nachfrage einen der vielen wissenschaftlichen Verdachtsmomente – und zwar sei das Wort „Gentrification“, welches die Richterin dabei offensichtlich zum ersten Mal in ihrem Leben aussprach, ein wichtiges Indiz gegen Andrej, weil es auch in den Schreiben der sog. mg (militante gruppe) zu finden sei: „Aha, das ist ja doch auffällig“, soll sie geäußert haben. Am Freitag nun wird das Gericht den Weg weisen; kommt Andrej dann nicht frei, wird er noch sehr lang im Gefängnis zubringen müssen – weiterhin unter den Sonderbedingungen für Terroristen – da mit einem Auftakt erst in 6 oder 7 Monaten und mit dem Prozessbeginn erst in einem Jahr zu rechnen wäre.

Viele der Studis, KollegInnen und MitarbeiterInnen, die sich im New Yorck des Bethanien zu diesem zweiten Treffen versammelt haben und den Worten der Anwältin lauschen, mögen lange angenommen haben, dass die Vorwürfe gegen Andrej von der Bekanntschaft zu den drei Verhafteten abhängen, die bei dem Versuch, unter Bundeswehr-Fahrzeugen Feuer zu legen, aufgegriffen worden sein sollen. HU-Kollege Professor Häußermann offenbahrt dazu seine Gedanken: Er habe bislang eher angenommen, dass Andrej sich von den Anderen habe „infizieren“ lassen. Hier spricht die „geistige Elite“. Rette sich, wer kann! Doch die Anwältin gibt zu bedenken: „Der mg-Vorwurf hängt nur an Andrej.“ Er und drei weitere Wissenschaftler, unter ihnen Matthias B., seien – aus Sicht des BKA – die militante Gruppe. Die mutmaßlichen Brandstifter hingegen seien lediglich im Verdacht, als Handlanger dieser angeblich terroristischen Vereinigung zu fungieren. Ihnen wird vorgeworfen, Andrej zu kennen. Und zwar soll dieser sich Anfang des Jahres zweimal konspirativ mit Forian L. getroffen haben. Ein Abhörversuch des BKA misslang, daher ist vollkommen unbekannt, über was gesprochen wurde. Aber: „Ein Terrorist trifft sich mit einem Brandstifter – dann muss es sich um eine terroristische Vereinigung handeln.“, so die Anwältin lakonisch. Über die Bekanntschaft zu Andrej gerieten die Drei (Anm.: zumindest Florian L.) ebenfalls in den Fokus der Ermittlungen und wurden observiert, bis sie dann bei der versuchten Brandstiftung verhaftet wurden. Die verdächtigen Wissenschaftler blieben bislang auf freiem Fuß, weil trotz Hausdurchsuchung keine Hinweise gegen sie gefunden wurden, während Andrej offenbar lediglich das Pech hatte, dass das BKA das Glück hatte, besagten Florian L. auf frischer Tat zu schnappen.

Sehr gut möglich ist auch, dass neben dem offensichtlich nicht beschuldbaren Andrej H. auch Florian L., Oliver R. und Axel H. nicht zu der vom BKA seit Langem vergeblich gesuchten – und möglicherweise sogar vom BKA herbeikonstruierten – militanten Gruppe (mg) gehören. Viel wahrscheinlicher hingegen ist, dass die Gruppen, die Bekennerschreiben verfasst haben, schlichtweg bei Andrej abgeschrieben haben. Aber auch hierzu gibt es offenbar nicht einmal konkrete Bezüge, die über die Verwendung von Begriffen wie Gentrification hinausgehen.

Die Bundesanwaltschaft steht nun also kurz vor einer der größten Blamagen ihrer Geschichte. Spannend wird auch sein, wie sich BKA und Justiz aus ihrer (Un-) Verantwortlichkeit winden werden. Zum Schluss noch diese vier Hinweise:

1) Eine Spaltung der Bemühungen für die vier unter Terrorismusverdacht Stehenden ist ausdrücklich nicht wünschenswert.

2) Der § 129a wurde – entgegen anders lautenden Behauptungen – unter der rot-grünen Bundesregierung nicht ent-, sondern verschärft und dabei u. a. um die Verdachtsgründe „Computersabotage“ und „Störung von Kommunikationsanlagen“ erweitert.

3) Am Sonntag Abend beschäftigt sich das ARD-Magazin ttt (Titel, Thesen, Temperamente) mit dem Fall.

4) Wer bei aller Wut auf die Gefängnisbehandlung und die Willkür der Vorwürfe – nicht allein, aber im Besonderen gegen eine kritische Wissenschaft – noch die Kraft findet, einen Brief an den zuständigen Bundesgerichtshof aufzusetzen, kann diesen z. B. wie folgt adressieren: Andrej Holm, c/o Ermittlungsrichter Ulrich Hebenstreit, Herrenstraße 45, 76133 Karlsruhe.

Heinrich Böll verhaftet

Frage*:

Vor zwei Wochen wurde der Sozialwissenschaftler Andrej H. festgenommen. Nun wurde der Schriftsteller und Übersetzer Heinrich B. verhaftet. Welcher Tat wird Heinrich B. beschuldigt?

Antwort* (BKA und Bundesanwaltschaft):

Heinrich B. ist nach § 129a StGB dringend tatverdächtig, intellektueller Vordenker der linksterroristischen Vereinigung mg (militante gruppe) zu sein. Aufgrund seines permanenten Zugangs zu Bibliotheken – weltweit – und seiner dort vorzufindenden Schmähschriften verfügt er über die sachlichen und intellektuellen Voraussetzungen, die für das Verfassen der vergleichsweise anspruchsvollen Texte der militanten Gruppe erforderlich sind. Heinrich B. muss daher als Rädelsführer der militanten Gruppe um die Brandstifter Florian L., Oliver R. und Axel H. angesehen werden. Die Veröffentlichung „Ende einer Dienstfahrt“ kann als zweifelsfreier Hinweis auf die Mitgliedschaft zu dieser gefährlichen, seit sieben Jahren die Grundfeste der staatlichen Ordnung erschütternden, terroristischen Vereinigung festgestellt werden. In „Ende einer Dienstfahrt“ befürwortet er die Militanz nicht nur, sondern verleiht ihr eine moralische Legitimation. Für sachdienliche Hinweise, die zur Ergreifung des flüchtigen, dringend tatverdächtigen Heinrich B. führen, ist eine Belohnung von bis zu 500.000 Euro ausgesetzt.

Wer dies liest, ist Terrorist.

„Johann und Georg Gruhl, Vater und Sohn, sind Möbeltischler. Johann Gruhl hat erhebliche Steuerschulden angehäuft; seine Situation verschlechtert sich, als sein Sohn zur Bundeswehr eingezogen wird. Am Ende seiner Dienstzeit erhält Georg Gruhl den Befehl, durch ziellose Fahrten mit einem Jeep den für die routinemäßige Inspektion erforderlichen Tachometerstand zu erzeugen, fährt aber stattdessen nach Hause. Gemeinsam präparieren Vater und Sohn Gruhl den Jeep und verbrennen ihn unter Absingen von Litaneien auf offener Straße. Vom örtlichen Amtsgericht werden sie zu vollem Schadensersatz und wegen groben Unfugs zu sechs Wochen Haft verurteilt.“ (Zusammenfassung aus der Wikipedia)

*Frage/Antwort fiktiv

Dann sind wir es alle

Die Taktik, an Einzelnen ein Exempel zu statuieren, um allen Aktivisten der sozialen, autonomen und kapitalismuskritischen Bewegungen – sowie ihren Sympathisanten – einen gehörigen Schrecken einzujagen, wird am Ende nicht aufgehen, aber sie wird Einzelne ins Verderben gerissen haben. Das hat längst begonnen. Diesen Menschen stehen wir zur Seite, schon auch deshalb, weil wir die Nächsten sein könnten.

Zunächst einmal aber schauen wir auf das zurück, was am Montag passierte: Drei Berliner werden verhaftet, als sie mutmaßlich Brandsätze unter Bundeswehrfahrzeuge zu legen versuchen. Sie wurden bereits längere Zeit observiert und stehen nun doch tatsächlich am Pranger, weil ihnen die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung (!) unterstellt wird. In dieser mutmaßlichen Vereinigung, die als mg (militante gruppe) bezeichnet wird, finden sich Menschen zusammen, die das gegenwärtige System nicht akzeptieren: Einschränkung der Grundrechte, Unterdrückung und Repression, Militarisierung und Sozialabbau. Ihren Auffassungen lassen sie Taten folgen: Anschläge auf Fahrzeuge und Gebäude der Polizei und Bundeswehr sowie auf ausgewählte Repräsentanzen des Staates und der Wirtschaft. Menschen kommen dabei nicht zu Schaden.

Die ermittelnden Organe des Staates tappen seit vielen Jahren weitestgehend im Dunkeln, während sich die Taten mehren. Den Medien wurde unlängst ein Maulkorb verpasst, damit das tatsächliche Maß der Aktionen und ihre intellektuelle Begleitung nicht ans Licht der Öffentlichkeit treten, niemand also beunruhigt wird, oder seinerseits – womöglich freudig – dem Ende der herrschenden Verhältnisse entgegensieht.

Wir erfahren so gut wie nie die Dinge, die uns zu Aufruhr verleiten könnten.

Ein weiterer Mensch wurde festgenommen, weil man ihm vorwirft, mindestens eine Art intellektueller Terrorist zu sein. Außerdem habe er einen der Brandschatzer mehrmals getroffen. Worüber geredet wurde, wissen aber auch die Ermittler nicht. Doch es lässt sich ja so schön etwas zusammenkonstruieren, wenn die im Verdacht stehende Person den politischen Strippenziehern ohnehin unliebsam erscheint. Die Möglichkeit, dass die Aktionisten einfach bei Anderen abschreiben, wird einfach ignoriert, weil sie entlastend wirken würde. In unserer Zeit wird es wieder zunehmend gefährlich, eine kritische Haltung kundzutun.

Was ist los in der Justiz? Guckt da auch nur irgendeine Richterin auf den absurden Schrieb, den sie von der Staatsanwaltschaft vorgelegt bekommt, bevor sie ihn unterschreibt und damit die Grundrechte von Menschen beliebig in die Jauchegrube der Ermittler tritt?! Offenbar nicht, denn sonst würden sich die absurden, willkürlichen Durchsuchungen und Verhaftungen nicht mehr in der Realität abspielen, sondern nur in den hässlichen Träumen der menschenverächtlichsten Staatsanwälte und Ermittler von BKA und LKA.

Das hat viel von einem totalitären Regime, dessen willfährige Erfüllungsgehilfen in der Justiz sitzen.

Der Paragraph 129a erlaubt es ihnen nicht nur, die tatsächlichen Aktionen – die vielen Menschen ja ohnehin zumindest moralisch legitim erscheinen – ins Licht des Terrorismus zu stellen, sondern er erlaubt es ihnen auch, beliebig terroristische (!) Zusammenhänge zu konstruieren, deren Hauptverdachtsmomente darin bestehen, dass die Verdächtigten kritisch schreiben und recherchieren oder zur falschen Zeit am falschen Ort mit den falschen Leuten plaudern. Das nennt man dann aber bitte wirklich so, wie es ist: Politische Verfolgung durch den Staat.

Wo bitte kann ich Asyl beantragen?

Auf Andrej Holm, der nun ins Untersuchungsgefängnis verschleppt wurde, treffen diese Verdachtsmomente zu. Auf mich treffen sie auch zu. Auf dich auch. Auf sie. Auf ihn. Selbst meine Großmutter scheint nicht mehr unverdächtig. Unter den Vorwänden, die der Paragraph 129a erlaubt, sind wir alle verdächtig, Terroristen zu sein, nein wir sind es schon längst.

Wir warten im Grunde nur noch auf unseren Abtransport.

Andrej H. ist ein sehr gebildeter und bildender Mann, ein Wissenschaftler, der seinen Beruf ernstnimmt. Er ist gefragt und er ist wichtig für uns alle. Als kritischer Mensch, zumal als Sozialwissenschaftler, recherchiert er im politischen und politisch-unternehmerisch-kriminellen Sumpf des Wohnungsmarktes und ist ein glühender Verteidiger sozialer Grundrechte. Er beschreibt die Praxis der Wohnungsverkäufe akribisch und weist an verschiedensten Stellen die negativen Auswirkungen auf die Mieter und die Stadt insgesamt nach. Wir kennen sein Engagement gegen Privatisierungen und wir kennen ihn aus dem Sozialforum. Gegen den gegenwärtigen Umgang mit ALG2-Empfängern hat er bereits unzählige Male angeschrieben – dies alles immer in seiner ihm ureigenen Art der Sachlichkeit und qualitativen Recherche. Gute Beispiele dafür finden sich im MieterEcho.

Möchte sagen, er ist einer unserer größten Helden.

Dass an ihm – stellvertretend für uns alle – ein Exempel statuiert werden soll, das steht außer Frage. Er ist ein Terrorismus-Verdächtiger, sagt die Staatsmacht. Wir sagen: Dann sind wir es alle.

Dem BKA eine kleben

Das Bundeskriminalamt hat den am 9. Mai widerrechtlich und gesetzeswidrig bei einem Einbruch in das Büro der Initiative Zukunft Bethanien entwendeten Laptop einer Aktivistin von ABRISSBERLIN stillschweigend zurückgegeben. Das Gerät allerdings, das übrigens während der vergangenen Wochen unersetzt als Büro- und Arbeitsgerät entbehrt werden musste, wurde aufgeschraubt, die Festplatte wurde „gespiegelt“. Gegen die Aktivistin lag zu keiner Zeit ein Verdacht vor, eine rechtliche Grundlage für die Beschlagnahmung bestand ebenfalls zu keiner Zeit.

Äußerlich ist das Gerät fast unverändert. „Das BKA hat uns aber noch eine Information geklebt. Wir möchten uns bei Gelegenheit gern revanchieren und dem BKA eine kleben.“ Ein Teil des Abriss Teams fährt nun aber erst einmal zum Baden. Gute Nacht.

Aufkleber des BKA Etwas ist faul...

Geraubter Freiraum

Der Generalbundesanwalt (offiz. Bezeichnung) ist ein Sicherheitsrisiko. Der Überwachungsstaat verschärft seine Gangart und arbeitet damit an seinem eigenen Kollaps. Hoffentlich. Nun müssen nur noch Millionen von Menschen, die bereits entpolitisiert und volksverdummt wurden, aufwachen und ihre verbrieften Bürgerrechte einfordern. Ist das realistisch?

Wie dem auch sein werde, die Willkür des BKA jedenfalls haben nun auch die Aktivisten von ABRISSBERLIN zu spüren bekommen.

Hier die Stellungnahme: Versuch der Einschüchterung

Kriminaldienstmarke
Kriminaldienstmarke des BKA