Die Sonne scheint ausgiebig, der Himmel ist heiter, die Landschaft wundervoll, und Angst ist ohnehin Deine ständige Begleiterin, und bekanntermaßen ist sie ja ein Überlebensinstinkt. Die Einheimischen erscheinen Dir sympathisch, die Menschen im übervollen Camp mal so und mal nicht so, für die Einsatzkräfte der Polizei gilt dasselbe, und die Lage der Welt ist nicht besser und nicht schlechter als vorige Woche. Doch irgendetwas ist ganz anders in diesen Tagen. Es ist G8 und die Vorsitzende des gerade vorsitzenden Landes hat nach Heiligendamm geladen. Im Zeichen der Angst der Mächtigen gegenüber denen, die zu „ihrer“ Bevölkerung zählen, wurde der Ort eingezäunt. Tausende Kritiker wurden bereits vor den Protesten kriminalisiert. Polizei und Militär sind im Dauereinsatz. Irgendein Gefühl, dass Du noch nicht gekannt hast, hat Dich hierher getrieben. Du wolltest es mittendrin erleben, ohne zu wissen, was das bedeuten würde. Was Du dann tatsächlich erlebt hast, hat Dich in vielerlei Hinsicht tief erschüttert.
Heute, einhundert Tage später, hast Du noch immer das himmlische Geräusch im Ohr, das permanente Kreisen der Helikopter, sobald Du an Heiligendamm denkst. Sie flogen am Tag und in der Nacht. Tagsüber kreisten sie einzeln, zu zweit oder zu sechst über Dir und in den Nächten stand ein Helikopter im Himmel, tief über dem Camp, um halb drei und dann um fünf nochmal, jeweils zehn Minuten lang. Schon den ganzen Tag und die halbe Nacht über waren die Helikopter im Einsatz über dem Camp und um das Camp herum gewesen. Nachts dann riss dies Tausende aus dem Schlaf. Angst und Unsicherheit wichen dem nächtlichen Frieden. Unten – im Zelt liegend – versteht man sofort, was der Zweck und was die Botschaft ist. Das unmittelbare Ziel des Einsatzes ist Folter durch Schlafentzug. Eine Entschuldigung dafür findet sich in Dir auch nach langem Nachdenken und Abwägen nicht. Dieses Zeichen der Erbarmungslosigkeit hat sich tief in Dich eingraviert.
Die enervierende Geräuschkulisse stellt jedoch nur das halbe Vergnügen dar, auch Bilder haben sich in Dich eingebrannt. Nie zuvor hast Du derart viele und aufgeregt hin- und herfahrende und auf allen Wegen, Um- und Unwegen erscheinende Polizeifahrzeuge erlebt, nie zuvor wurdest Du im freien Gelände verfolgt und gejagt, auf den Äckern, an Waldesrändern, auf dem Deich, am Ostseestrand, im Zeltlager, auf der Straße, auf den kleinen Abzweigen, zwischen Schafgeblök und Grillenzirpen, weit vor den Zäunen, Toren und bis an die Zähne bewaffneten Einheiten mit Schießbefehl, die den G8-Tagungsort Heiligendamm wie eine Festung sicherten und kilometerweit gegen jedwede Störung abschirmten. Noch Wochen nach Deiner Rückkehr in die vermeintlich friedsame Heimat siehst Du Mannschaftswagen, vor Dir fahrend oder stehend oder entgegenkommend, sobald Du die Augen schließt. Das Gefühl dazu legt sich über all Deine sonstigen Empfindungen wie Mehltau. Vor deinen Augenn sind die Bilder präsent, sobald Du an Heiligendamm erinnert bist. Du denkst an den Hass und die Verachtung in den Gesichtern der mit willkürlichen Absperrungen betrauten und vor ihren gewalttätigen Räumungseinsätzen stehenden Einsatzkräfte. Du erinnerst Dich an die Rambos ebenso wie an jene Männer, die dem Anschein nach einer Boygroup hätten entsprungen sein können. Diese Gedanken verdunkeln Dein Gemüt, denn Du denkst an die Selbstverständlichkeit, mit der sie ihren Hass verbal bekräftigten: „Das müssen wir noch alles wegräumen“, sagte der eine und schon warst Du jeglicher Menschenwürde beraubt.
Gemeinsam mit hunderten anderer betrittst Du die idyllische Bühne eines gewaltigen Schauspiels. Du überquerst die sanften Hügel der Sommerwiesen, die in der Sonne leuchtenden Felder, überwindest Stacheldraht und Gräben, änderst Deinen Kurs, sobald Deine Verfolger Dir zu nahe kommen. Am Ende gelangst Du an das Osttor des mächtigen Zauns, der den Ort Heiligendamm weiträumig abriegelt. Immer mehr Menschen gelangen auf provisorischen Wegen an das scharf bewachte Tor. Auf der Zufahrtsstraße versammelt sich die immer weiter anwachsende Menge, informiert und berät sich, hält einander fest. Viele sitzen oder liegen erschöpft auf dem Asphalt. Gelegentlich streifen Einsatzkräfte in voller Montur durch die Masse, um dann wenig später den Rückweg anzutreten. Manchmal preschen sie mitten durch die verunsicherte Menge, andere Male patroullieren sie am Rand. Räumpanzer und Wasserwerfer werden in Stellung gebracht. Aus Megafonen und Lautsprechern tönen strikte Aufforderungen; die Durchsagen werden von Mal zu Mal martialischer. Zwei Helikopter kreisen bereits seit Stunden über euch. Plötzlich landen im hohen Gras einer angrenzenden Wiese sechs Helikopter. Einsatzmannschaften steigen aus und laufen auf die Menge zu. Ihre Montur, die Schlagstöcke, die lauten Motoren verschaffen sich zweifelhaften Respekt. Doch diesmal blufft die Staatsmacht nur. Nachdem die Kämpfer wieder abgezogen sind, erscheint Kavallerie. In einer Reihe von neun Pferden sitzen wiederum Herren in voller Montur. Und wieder fragst Du Dich, was in den nächsten Momenten geschehen wird. Die Reiter erscheinen Dir bedrohlich, der Himmel trägt Spannung, was währenddessen an den Flanken geschieht, weißt Du nicht.
Aus intellektueller Distanz heraus mag man die gewaltvollen Eingriffe der Staatsmacht als lachhafte Muskelspiele abtun wollen, denn „umso lächerlicher stand sie da mit ihrem überzogen militanten und gewaltbereiten Apparat“, so ein Berliner Kommunikationswissenschaftler. Zum Lachen aber animiert nichts, während sich die unmittelbare Praxis vollzieht. Keiner jener Eindrücke erweist sich als unbedeutend, alles daran ist so bedrohlich und so wesentlich wie es erscheint, wenn Gefahr, Angst und adrenalingeschwängerte Unsicherheit um sich greifen. Und dann kehrst Du mit einem Gefühl heim, das Du vorher nicht gekannt hast, dem Du allerdings zutraust, Deine ganze Existenz verändert zu haben. Denn das war Krieg, ohne Bomben, ohne Schusswaffeneinsatz – fast –, ohne Tote zwar – noch –, doch nichts kann verleugnen: Ein Staat führt Krieg, Krieg gegen Dich, gegen Euch.
Mittendrin wolltest Du sein, ahntest Du ja nicht, was dies bedeuten würde. Eure Bewegung der Bewegungen sahst Du dort, hast sie erlebt, sie verstanden; auch vieles andere hast Du nun begriffen, und lang hast Du gewartet, tief nachfühlend, um von einigen der Vorgänge um Heiligendamm ohne Hass und ohne überzogene Verachtung erzählen zu können.