In Berlin laufen viele Filme gleichzeitig. Auf dem Weg von Kreuzberg nach Wilmersdorf: In der U-Bahn trällern zwei junge Blonde mit Dreadlocks ein Lied für Comandante Che Guevara. An die Fensterscheibe hinter uns hat ein Werbe-Witzbold im Auftrag einer Bankgesellschaft ein paar Denkblasen mit Waschmaschinen und Autos geklebt, die nun sowohl vom gegenüber liegenden Fenster reflektiert, als auch von den Gegenübersitzenden gesehen werden. Wir verlassen die U-Bahn an der Station Kurfürstenstraße, weil wir vom Zug aus nur den Anfang des Namens lesen und die Ansage überhören. Hier ist nicht der Kurfürstendamm. Oben sitzt ein älterer Herr in seinem teuren Benz, während ein hübsches, junges Mädchen an seine Scheibe klopft: „Hi, was möchtest Du denn?“ – …..! „Im Auto?!“ Sie lehnt ab.
In Wilmersdorf angekommen:
Das CSD-Forum im alten Offizierskasino der Aidshilfe-Zentrale entscheidet heute abschließend über das Motto der einstmals politischen Großdemonstration für die an sich selbstverständlichen Rechte von schwulen Männern und lesbischen Frauen und Allen dazwischen. Der Vorstand des CSD-Vereins hat „Einigkeit und Recht und Freiheit“ ausgerufen, was Vielen aber seltsam staatstragend und nach eng gefasstem Nationalgedöns klingt. Zur Wahl stehen nun „Einigkeit und Recht und Freiheit“, „Einigkeit und Recht und Freiheit?“, „Einigkeit – Recht – Freiheit“, „Wir haben die Freiheit und das Recht, verschieden und einig zu sein“, „Verschiedenheit und Recht und Freiheit“, „Freiheit und Recht und Einigkeit“, „Uneinig in Recht und Freiheit“ und „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, wobei „Verschiedenheit und (…)“ sowie „Die Würde des (…)“ bereits vor einem Monat von 15 Teilnehmern (Frauen gab’s keine) in einer Kampfabstimmung zu Gunsten der Verschiedenheit abgestimmt wurden.
Sie vermissen etwas? Kreativität und klare Forderungen? Also heute sitzen wir hier zu 40st (inklusive einer Hand voll Frauen) und beschließen in einer Kampfabstimmung dasselbe wie vor einem Monat. 11 der Anwesenden lehnen jeden Bezug auf die „Nationalhymne“ ab und stimmen wacker für die unantastbare Würde. Die Atmosphäre in der Runde ist von vornherein nicht nur angespannt, sondern schlecht, die Diskutanten mitunter muffelig, der Vereinsvorstand genauso wie der unsägliche Jan Feddersen von der taz und diverse andere Bewegungsschwestern. Die meisten sehen sich zum Verwechseln ähnlich, so dass wir sie auf der Straße nicht wiedererkennen könnten, auch sonst geht es anachronistisch zu: Die Vergangenheit hängt szenenmodentechnisch im Raum, fies wirkende Gspusis aus Österreich nicken alles echt Deutsche ab und konservativ karierte Hemden gehören zur üblichen Kleiderwahl. Die Jüngeren geben sich angepasst und einheitstuckig. Ein Älterer fordert, keine Bareback-Werber (Werber für ungeschützten Party-Sex unter Fremden) mehr bei der Parade zuzulassen. Wer das für selbstverständlich hält, wird eines Besseren belehrt.
Bei der Auswahl der Forderungen wurden transidente Menschen gleich ganz vergessen, obwohl gerade ihnen die größten Schwierigkeiten gemacht werden, auch die Forderung nach dem Adoptionsrecht sucht man vergebens. Dafür wird immer fleißig die rechtlich-finanzielle Gleichstellung gefordert.
Ein trauriger Verein! Hoffen wir also auf den Transgenialen!