Berlin – Mein erstes Mal

Man sollte immer viel erwarten.

Ich denke, dass Klassenfahrten durchaus Schlüsselerlebnisse sind. Und es ist ja wirklich bemerkenswert, mit wieviel ideologischem Elan manche Lehrkraft ein solches Erlebnis zu gestalten versucht. Aber – und das sei hier auch bemerkt: Ich würde es wohl genauso versuchen.

Als ich vor 8 Jahren erstmals von einer West-Ost-Sternschnuppe nach Berlin getragen wurde – das war lang vor meinem Amtsantritt als Ostprinzessin – da durften wir dank Günter (unserem Wirtschaftslehrer) eine ganz andere Perspektive als die von Fucking-Pain-Sabine einnehmen: Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland, gar die strukturelle – das war unser Thema im Leistungskurs Wirtschaft. Das führte zu einem erklärenden Termin im Arbeitsamt und zu einem Ausflug nach Adlershof, wo gerade die Planungen für „das größte Wissenschaftszentrum Europas“ das realistische Maß überstiegen und der gezeigte Investoren-Propagandafilm auch beim geneigtesten Kapitalisten unter uns einem schalen Nachgeschmack hinterließ.

Aber eigentlich begann es anders: Am Bahnhof Friedrichstraße angekommen, mit den Koffern draußen stehend, lief uns zunächst ein junger, berlinernder Punk mit Hund über den Weg. Von irgendwo in der Nähe wehten ein paar bunte Federboas. Die Love Parade stand bevor, aber das wusste ich gar nicht. Unsere Unterkunft übrigens lag in Wannsee, im Gästehaus der Friedrich Ebert Stiftung, wo Leute arbeiteten, die das Ende der traditionellen Arbeitsgesellschaft genauso herbeisehnten wie auch ich damals schon. Der Fußweg zum Gästehaus führte durch ein exklusives Villenviertel. Zu den geplanten Ausflügen zählten ein Abend in der Vaganten Bühne, wo Shakespeares gesammelte Werke in 90 Minuten zur Aufführung kamen, und ein Abend im Renaissance-Theater bescherte uns einen einprägsam verwirrenden Eindruck von zwischengeschlechtlicher, britischer Schauspielkunst. Günter bestand außerdem darauf, uns sein Lieblingslokal in der Oranienburger Straße zu zeigen, von wo aus wir staunend den Prostituierten zusahen – und dass das Niemanden zu kümmern schien.

Es gab viel freie Zeit und keine Kontrollen. So konnte ich mutterseelenallein Ausflüge in die „berühmte“ Motzstraße machen, um schwule Luft zu schnuppern, und abenteuerliche Begehungen von wundervoll schäbigen Häusern in der Spandauer Vorstadt erleben. Der Gruppenausflug ins nagelneue IMAX-Kino am Potsdamer Platz wurde zwar weniger erfüllend, aber bildete doch einen geeigneten Kontrast.

Im Nachhinein muss ich nun vor Glück wirklich weinen. Das versteht ihr, oder?

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