Endlich finde ich Worte

Neulich in einem Gespräch erklärte und begründete ich die Schweizer Pandemie-Politik und auch die Schwedens. In diesen Gesellschaften, die weitaus gefestigter sind als die anderer Länder, insbesondere der großen, wird weniger als dort nach Schuldigen gesucht. Schuld ist kein Leitmotiv des öffentlichen Diskurses. Das Vertrauen in die Stabilität ist größer als die Angst vor einem ethisch-moralischen Urteil. Und wo kein Schuldbewusstsein ist, werden auch keine Maßnahmen gewollt, die den Menschen viel verbieten und uns in Schuldige und Unschuldige einteilen.

Ich nahm Partei für diese Position, doch bald war mir klar, dass ich nicht daran glauben kann. Denn ich glaube, dass die Politik Schwedens und der Schweiz amoralisch ist, gleichgültig oder menschenverachtend, vielleicht alles drei zusammen und das sogar mehr als die Politik vieler weit weniger privilegierter und in anderen Fragen weitaus zynischerer Gesellschaften. Und ich empfinde seit Beginn der Pandemie großen Unmut über ihre völlig unzureichende Bekämpfung, dort wie auch hier. Infolge der fehlenden Konsequenz erleben wir zu lange schwache Lockdowns und die ungerechte Verteilung der horrenden Lasten.

Ja, auch andere versagen. Belgien zeigt sich als gescheiterter Staat, Tschechien, Ungarn, Russland, USA – die Liste hart getroffener Länder mit auffallend hohen Leidens- und Todesraten ist lang: Frankreich, Spanien, Norditalien und nicht zuletzt das UK. Bei den Großen in Europa vollzieht sich seit langem ein innerer Zerfall, im Falle Großbritanniens und Spaniens auch ein äußerer, wie zunehmend erfolgreiche Abspaltungsbestrebungen belegen. In vielen Gesellschaften ist der rechtspopulistische Druck groß, mehr noch als in der deutschen, die zwar ähnlich stark polarisiert ist, aber de facto weniger Rechtspopulist*innen in der Nähe realpolitischer Macht und bis dato weit weniger Pandemieopfer aufweist. Wobei man sehen muss, dass nicht überall der Druck von rechts prägend ist, sondern vielmehr ein antisoziales Arschlochtum à la Merz, siehe England.

Ja, unsere Lebensrealität ist komplex. Ohne persönliches und gesellschaftliches Risiko geht es nicht. Doch wir Menschen sind nicht gut darin, unser Verhalten selbst zu beurteilen. Wir sind angewiesen auf eine objektive Risikobewertung. Das Prinzip der Eigenverantwortung funktioniert in einer Pandemie nicht. Politik muss die Kraft haben, Freiheit zu beschränken, um Leben zu schützen, gerade die der besonders Gefährdeten. Unsere Freiheit endet da, wo die Freiheit anderer beginnt.

Als im Sommer viele begannen, ihren Urlaub zu posten, begann ich still zu fragen, was ich mir und meinen Friends beweisen wollte, machte ich Urlaub in der Pandemie. Ist das wirklich Freiheit, die gute, ziviler Ungehorsam, ein kleines Aufbegehren, ein Bahnbrechen menschlicher Bedürfnisse, eine notwendige Flucht, oder sogar einfach nur Gelassenheit? Vielleicht. In jedem Fall empfinde ich Antipathie. Weil es mir schwach erscheint und ich so schwach nicht sein möchte, und weil es mir stark erscheint und ich so stark nicht sein möchte.

In meinem literarischen Bewusstsein sehe ich alles als eine Erzählung. Welche Geschichte von mir will ich erzählen während und nach der verherrenden Pandemie? Dass ich im Urlaub war? Dass ich Party gemacht habe? Dass ich andere in verantwortungslosem Verhalten bestärkt habe? Dass ich es besser wusste? Not my story. Aber ich suche noch.

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