Tinta Bruta
Paradies: Glaube
Ulrich Seidls nahezu unspektakulärer Spielfilm über Bigotterie und innere Not, Menschenwürde und sexuelle Lust am Katholizismus. Paradies: Glaube, hautnah und schonungslos interpretiert von Maria Hofstätter. Mit virtuosen Verweisen auf die großen Fragen des Lebens – Selbstverwirklichung, Sinn und Herkunft, Macht und Ohnmacht, Liebe und Hass –, ohne dabei die kleineren menschlichen Nöte und Vorlieben außer Acht zu lassen. Paradies: Glaube, ein pädagogisch wertvoller, in vielerlei Hinsicht zeitloser, hervorragend abgewogener Lehrfilm für Pharisäer, Kulturseismologen und Röntgenassistentinnen, Theologiestudenten und Teilnehmer des Vatikanischen Konzils, sowie für Schulkinder ab der 3. Klasse.
Im Kant Kino.
Queer Film Festival Oldenburg
Ganz besonders gefreut habe ich mich, dass es meiner Wenigkeit gelungen ist, gegen anfängliche Widerstände und gehörige Skepsis seitens einiger Organisatoren Dicke Mädchen von Axel Ranisch ins Festivalprogramm zu hieven, auch wenn dieses reichlich wunderbare Machwerk im Programmheft fälschlich als „Antifilm“ bezeichnet wird und der Rezensent glaubte, zusätzlich dazu darauf verweisen zu müssen, dass darin keine „Sahneschnitten“ zu sehen seien – ach, Mann! C’est la vie.
Nachtrag, 30.12.2012: Der Rezensent stellt klar, dass er mit seinem Hinweis keinerlei Bedauern über das Fehlen von „Sahneschnitten“ zum Ausdruck bringen wollte. Weshalb er keinen der Darsteller für eine Sahneschnitte hält, bleibt jedoch weiterhin ungeklärt. .-)
Phett: „Dicke Mädchen“
„Dicke Mädchen“, grandios bezaubernd, betörend menschlich, in einfacher Klarheit, dabei immer vieldimensional, gleichsam wild und kultiviert – ein überraschend lebhaft, klug und grob- wie feinhumorig geratenes Werk, welches noch im traurigsten Moment als Sonne sich scheint in frierend Herzen und finstre Kinosäle.
Mit Peter Trabner und Heiko und Paul Pinkowski; in unheimlicher Hauptrolle: die 89-jährige Großmutter des in Ostberlin geborenen Regisseurs Axel Ranisch, Frau Ruth Bickelhaupt als Edeltraut Ritter, die im Alter von 85 zum ersten Mal vor der Kamera stand – verblüffend überzeugend.
Aus zauberhaftem Zartgefühl, für die Freiheit, für schlagende Herzen.
Und wenn wir alle zusammenziehen?
Oft anrührend, manchmal aufrührend, meistens humorvoll und durchweg gekonnt – überwiegend interessant also, aber auch ebenso eindimensional bleibend. Doch Charme und Kraft der alten Granden vermögen zu überzeugen, auch wenn französisches Kino jenseits dieses straighten Filmwerks durchaus fantasiereicher und abseitiger zu offerieren vermag.
Ein poetisches Plädoyer für Menschlichkeit
Kaurismäki-Filme gelten als lakonisches, wenngleich poetisch geformtes Abbild sozialer Wirklichkeiten, in deren Widerschein die ganze Gewalt der menschlichen Existenz auf geradenach grotesk anmutende Art und Weise einen seelisch authentischen Ausdruck erlangt. In den zauberhaftesten Momenten seines neuesten Werks Le Havre spielt der in Portugal und Finnland lebende Filmemacher Aki Kaurismäki mit der Kraft der Illusion und der Macht des Herzens, um exemplarisch zu belegen, dass ein Zusammenstehen moralisch handelnder Individuen – vom Clochard bis zum Kommissar – einem einzelnen Unrecht Einhalt gebieten kann.
Wie in all seinen Filmen, verströmen auch in Le Havre ein mitfühlbarer Humor, absolute Detailtreue sowie unerwartete Momente des Schweigens den von Kaurismäki gewohnten cineastischen Scham – und sie atmen Aufrichtigkeit.
Die europäische Flüchtlingspolitik und deren ökonomischen Hintergründe bleiben gleichwohl unverändert und die Verantwortlichen jenes amtlichen Unmenschentums gewiss ungerührt von Kaurismäkis liebevoller Vision. Afrika dient der sich überreichernden Welt als billiger Bodenschätze- und Agrarprodukte-Lieferant, welcher in vielerlei Hinsicht von seinen schamlosen Geschäftspartnernerzwingern abhängig gemacht wurde und wird. Die dem von uns verschuldeten Elend fliehenden Menschen aus Afrika werden an den europäischen Außengrenzen mit aller Frontex-Härte von ihrem Recht auf eine menschenwürdige Existenz abgehalten. Dennoch oder gerade deshalb ist Kaurismäki mit Le Havre ein couragiertes Zeichen verzweifelnder Hoffnung gelungen.
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Exodus
An goldner Gräben Lauf
tönt euch, ihr Toren,
ganz unbenommen herzverloren,
ein freiherrlich „Frontex!“
zum Willkommen;
willkommen hier im Land
– Laffenland! Was
von höchstem Schaffen
kündet, ist der Export,
der von Wort und
der von Waffen, jeder
Gattung, jederorts;
ach höret doch, sie ist
längst unser, eure Freiheit,
auch die der Wahl
der Waffen; hey, ihr Affen,
wir sind human!
Auferstanden aus Ruinen,
lasset uns plärren
das Schlaraffenlied!
Afrika, o Afrika,
deine Lippen, brennend heiß,
zu heiß, sie zu küssen,
wenn sie schwellen gar
am zärtlich Kosen
unsrer Atoma. Hab Acht,
schwarzer Kontrahent, geh‘
in die Savanne scheißen,
träum süß, gut‘ Nacht!
[ostprinzessin]
Herzensbrecher
Knapp daneben: „MicMacs – uns gehört Paris!“
Beginnt wundervoll, besticht durch seine märchenhafte Fantastik und poetische Leinwandbilder, allerdings nur phasenweise, und gleitet dann leider teilweise in Klamauk ab, während dabei die Story allzu übersichtlich bleibt, obwohl ihre gesellschaftskritische Perspektive grundweg sympathisch anmutet.
Als Ankerthemen dienen diesem Werk des Erschaffers der fabelhaften Welt der Amélie die Abgründe von Waffenproduktion und Rüstungsexport sowie die damit einhergehende, in Frankreich und Deutschland gegenwärtige Charmelosigkeit, die hier auf die Spitze getrieben wird und sich plötzlich der konsequent radikalen Opposition einiger moralisch-anständiger Außenseiter gegenübersieht. Besagte Außenseiter jedoch werden in allzu klischeehaften Charakteren gezeichnet und überspringen somit nur selten die Hürde des bereits Bekannten oder Erahnten. Allenfalls eine unvermittelt in den Raum geworfene, abfällige Bemerkung über Schwule sorgt für Überraschung, wenn auch für eine unliebsame.
Es bleibt der Eindruck, zwar auf wichtige Themen, ein Sammelsorium großartiger Ideen und durchaus auch auf faszinierende Umsetzungen zu treffen, doch dann mit der Drift in den Klamauk leider auf Abwege geführt zu werden. Wer herzlich erfasst und erfüllt werden wollte, der muss sich letztlich damit begnügen, peripher tangiert worden zu sein. Schade.
Avantgarde verpflichtet
Heute vormittag weckte mich die Sonne. Derart sanft und überaus zärtlich geweckt, beschloss ich, dem Tag etwas ganz und gar Erhabenes zu verleihen. So eilte ich zu einer – die zeitgenössische Gesellschaft, in der wir leben, bezeichnenden, weil spärlich besuchten – Filmaufführung. Nie zuvor habe ich einen Film von Werner Schroeter gesehen; nun muss ich wirklich sagen, dass ich dies bereue.
Vor nicht einmal zwei Wochen ist er verstorben, daher sprachen vor der Aufführung noch Elfi Mikesch, Rosa von Praunheim und Ulrike Ottinger, die recht treffende Worte fanden über Vergangenheit und Gegenwart der Bedingungen des Schaffens. Die Ottinger wollte jungen Menschen Mut machen, es zu wagen, den eigenen Ausdruck zu finden und ihm kompromisslos, gegen alle Widrigkeiten, zu folgen. Rosa sprach davon, dass Werdegänge wie der Werner Schroeters oder einer der (anwesenden) Kollegen heute nicht mehr möglich seien, denn damals, als sie begannen, haben Strippenzieher in den Medien – ob offen oder heimlich – so manchen Regisseur und so manche Filmemacherin protegiert, um an der Modernisierung der Gesellschaft teilzuhaben, Verkrustungen aufzubrechen. Das werde nun für lange Zeit nicht wiederkehren, so die nüchterne Analyse.
Dem stimme ich vorbehaltlos zu – und doch möchte ich alles in meiner Macht stehende dafür tun, dem entgegenzuwirken.
Jene Persönlichkeiten, in deren Sphäre auch Ingrid Caven beheimatet ist, empfinden eine ähnlich starke, poetische Autonomie. „Der Rosenkönig“ – ein Film, in dem jedes einzelne Bild, jede Perspektive wunderschön ist, dabei mehrfach gebrochen – im Sinne von Bedeutung und Hintersinn steigernder Intensität – an Ruinösem, also nicht etwa auf Hochglanz poliert. Mit einer unfassbar starken Magdalena Montezuma – einer Sehenden, an deren debil funkelnden Ausdruck allenfalls die ihr wie aus dem Gesicht geschnittene Cora Frost heranreichen mag -, die zwei Wochen nach dem Dreh ihrem Krebs erlag, zu gern jedoch bereits während der Arbeit gestorben wäre.
Solch ein Werk ist von der Poesie des Schöpfens wie der des Scheiterns, des Nicht-Sein-Könnens durchtränkt, und doch befeuert es die Lust auf gerade genau diese höchsten Formen des Werdens.
Ihre und Eure Ostprinzessin