Widerkehr in Geist und Sinnlichkeit

„Das ist superschön, das Stück, oder“, flüstert mir mein Sitznachbar im Theaterdiscounter ins Ohr. Mein Kopf nickt bereitwillig.

„Sinnlich“, „wogend“, „pulsierend“ ergänze ich in Gedanken. Doch der selbstbewussten Hingabe der drei überaus spiellustigen Künstlerinnen liegt neben der auratischen Kraft eine ebenso scharfsinnige wie anklagende Analyse zugrunde. „Choreografotze!“ schreit Rebecca Egeling, und Recht hat sie. Denn Choreografie ist Fremdbestimmung, ist nicht selten – und dennoch nie sichtbar – die geistige Penetration prekär beschäftigter, im vorliegenden Fall Tänzer zu nennender Lebewesen, und natürlich ist sie auch deren körperliche Benutzung. Ein ums andere Mal stellt sich die Frage nach Ausbeutung und Selbstausbeutung; die Grenzen verlaufen fließend.

Charlotte Jauch, Carolin Schmidt und Rebecca Egeling legen in Comeback ihre seismografische, gleichsam autobiografisch wie gesellschaftskritisch motivierte Abrechnung in einer erstaunlichen Fülle an Spiellaune dar. Schon nach wenigen Minuten fühlt man sich an die besten Seiten und Zeiten sogenannter Kleinkunst erinnert, und o Wunder, man braucht sie für die daraufflogende Stunde gar nicht wieder zu verlassen. Mit jedem Moment der kurzweiligen Performance reift die Gewissheit heran, einem Feuerwerk von Geist und Sinnlichkeit beizuwohnen. Mehr noch:  Am Fuße eines wild schwankenden, schließlich umstürzenden Fasses intelligenten Humors zu stehen – das wissen wir –, ist weder im Komödienstadl noch in den Tempeln der Erleuchteten die Regel, sondern die Ausnahme.

Ebendiese Ausnahmeerscheinung verkörpern alle drei Bühnenkünstlerinnen in einer Vielzahl schneller Momente, vor allem aber in den entschleunigten, während derer die Köpfe der Zuschauer weiterführende Assoziationen zusammenreimen, welche dann zu Tränen gerührt von den Kinnladen tropfen. Ambivalenzen in Inhalt und Ästhetik zu erzeugen, gehört meines Erachtens nach zu den Meisterstücken jedweder Kunstdarstellung. Selten gerät eine ironische Auseinandersetzung dabei so erbaulich wie in Comeback, und dies Gelingen erinnert an Phänomene wie Cora Frost, die es verstehen, ihrer Glücksbegabung stellvertretend für ihr Publikum freien Lauf zu lassen und jede Höhe zu gewinnen, ohne sich niederer Instinkte zu bedienen oder den Boden unter den Füßen zu verlieren.

Die virtuosen Wechsel zwischen tief empfundener Sehnsuchtsperformanz, herzhafter Persiflage und bissiger Satire verrühren Comeback zu einer überraschend schmackhaften und dabei nachhaltig nährwerten Ingrediens im manchmal bitteren Brei des Daseins. Und nicht erst während des ironischen Phrasendreschens, dem neben allerlei bekannten Werbesprüchen auch so manche Volksweise zum Opfer fällt, gemahnt sich Widerstand. Mehr noch: Comeback wartet mit veritabler Revolutionsfantasie auf. Der „revolutionären Vision von Tanz“ möchte man auf der Stelle Folge leisten, nicht allein deshalb, weil Carolin Schmidt sie im wohligen Klang ihrer betörenden Stimme vorstellt. Denn befreiten wir uns aller Verspannungen und lenkten sie in die Regung unserer Glieder – ob nun selbstchoreografiert oder spastisch –, dann „wäre die Welt ein großes Tanzfest“ und sicher auch ein Ort unkontrollierter Bewegungen, welche jedes Begehr des munter anwachsenden Überwachungsstaates zur Farce machte.

Die Künstlerinnen jedenfalls ließen auch dieser Sehnsuchtsthese umgehend Praxis folgen. Das geneigte Publikum bedankte alle Überzeugungstat mit „Bravo“ und tosendem Applaus.

__________

Comeback / ein Stück Tanz zwischen Pop und Wissenschaft

Comeback ist aufschlussreich wie eine Reportage, unterhaltsam wie ein Roadmovie und trashig wie ein Musikclip. 3 Tänzerinnen — endlich zurück auf den Bühnen der Welt. Ihr Comeback ist Comeback und Auseinandersetzung zugleich — mit den grundsätzlichen Konzepten von Erfolg, Lebenszielen, Ehrgeiz, Scheitern.

Die Bühne wird zum Ort, an dem die drei Tänzerinnen eigene Ambitionen ausbreiten und vor den Augen der Zuschauer sezieren In Interviews mit Coachs, Politikern und Produzenten fragen Rebecca Egeling, Charlotte Jauch und Carolin Schmidt nach Tipps, wie ihnen ein Comeback gelingen kann. Dabei erforschen sie das Verständnis von Erfolg und Scheitern in einer neoliberalen Gesellschaft, in der jeder seines eigenen Glückes Schmied zu sein hat. Bewährte Erfolgskonzepte werden aufbereitet, um sie mit den Eigenen zu vergleichen. ‚In was für einer Welt wollen wir tanzen? Wie hat sich der Tanz verändert für den wir einst auszogen, ihn uns anzueignen? Ist uns das geglückt? Oder sind wir daran gescheitert? Verändern sich Ziele, während man sich auf sie zubewegt?’

Werden die Drei an alte Erfolge anknüpfen können? Wird sich das Publikum an sie erinnern? Eines ist sicher: Sie wollten und wollen auf die Bühne und zwar so wie sie sind. Ein eigenwilliger Abend einer Gruppe, der die Zukunft gehören wird: A star will be born. We are As We Are. Von und mit Rebecca Egeling, Charlotte Jauch und Carolin Schmidt.

Ende gut, alles gut

Bezaubernd varietistisch. Ein Schmunzelfest für alle Liebhaber absurder Theatralität in intellektuellen Überschlägen. Eine starke Ensemblearbeit bestens harmonierender Akteure, deren Spiel seinen Platz im zauberhaften Gefüge der rasch wechselnden Szenen mühelos findet. Einfalt weicht fesselnder Spiellust. Nur wenige Fehltritte trüben die Wirkungsmacht einzelner Sequenzen, en gros aber trägt sich dem Zuschauer die Gewissheit: Diese Interpreten wissen, was sie mimen und sie tun es ausgesprochen gern.

Am Ende wird sich ein Schauplatz ungeahnt morbider Nonchalance entfaltet haben. Am Ende? Ja, denn letztlich zieht es dann doch herauf, und mit ihm nun auch die Vergängnis des jähen Aufblühens einer verloren geglaubten höheren Hoffnung in das Sujet Theater. Jene Hoffnung zelebriert in „Es gibt kein Ende“ eines ihrer raren Comebacks,  infolgedessen sich der unvermittelte Einwurf „Ich meine, es gibt Gerechtigkeit in der Welt, aber warum kommt sie so spät?“ als vielmeinende Weisheit bezeugt.

Das Theaterdiscounter-Publikum dankt dies mit warmem Applaus, gleichwohl unüberhörbar bleibt, dass absurdes Theater beileibe nicht jeden zu erreichen vermag und wenige nur in Herzensnähe. Am kurzweiligen Spiel, dem fabelhaften Bühnenbild, der innervierenden Inszenierung oder der finessenreichen, lyrischen Sprache der überaus tragisch verstorbenen Autorin Anna Jablonskaja wird es nicht gelegen haben können.

„Die Welt enthält keine Fragen. Nur Antworten. Unsere Aufgabe ist es, zu jeder Antwort die richtige Frage zu finden“, heißt es in Anna Jablonskajas Stück. In 15 ebenso prägnanten wie humorvollen Szenen entsteht ein Geflecht aus Beobachtungen, Begegnungen und Zwiegesprächen in Vergangenheit, Gegenwart und virtueller Welt, mit Anklängen an Zwetajewa, Brodsky und Goethe, eingebettet in den literarischen Kosmos Europas. Mit Es gibt kein Ende setzt Anna Jablonskaja die avantgardistische Tradition des russischen Theaters fort. „Wir denken, dass wir mit der Geburt einen Namen erhalten. Aber das stimmt gar nicht. Wir bekommen ein Pseudonym, aber den Namen erfahren wir nicht.“ Ein Erfinder, ein Mädchen, Menschen mit bunten Haaren, aber auch Goethe und Werther, die Gesichtsmuskeln und ausgesuchte Vulkane begeben sich auf die Suche nach den richtigen Fragen. Wenn der Mensch mit grauem Haar seinen Arbeitsalltag als Verlieren von Zeit beschreibt, das Mädchen ihre Sucht Kleinbus zu fahren beichtet und Ararat und Vesuv darüber streiten, wer von beiden echte Asche oder doch nur schleimigen Auswurf spucken kann, so geraten gesicherte Weltzusammenhänge im Großen und Kleinen aus den Fugen. Gegenstände und Umgebungen treten aus ihren vertrauten Zusammenhängen heraus, Figuren nähern sich an, um gleich darauf die herkömmlichen Zeitverankerungen zu durchbrechen. „Es gibt kein Ende“ mit Christine Diensberg, Lucie Mackert, Robert Arnold, Endre Holéczy und Johannes Karl. Zimmertheater Tübingen und Ruhrfestspiele Recklinghausen. Regie: Christian Schäfer.

Das Erdbeben in Chili

Kein Beben, nicht mal eine Erschütterung: Kleists „Das Erdbeben in Chili“ in einer Bearbeitung von Jana Polasek. Schade.

Im Theaterdiscounter.

Die Inszenierung der jungen Regisseurin Jana Polasek setzt im doppelten Sinne ganz auf die Kraft der Erzählung sowohl Kleists als auch ihrer beiden jungen Schauspieler und behauptet gerade damit die Aktualität des Textes. In einer völlig schnörkellosen Inszenierung wird die Geschichte mit einfachsten Mitteln erzählt und entwickelt durch Kleists Sprache und Wortgewalt einen Sog, der immer weiter in die großen Fragestellungen dieser dunklen und brutalen Geschichte hineinzieht.

Zwei junge Liebende sind wegen ihrer verbotenen Liebe zum Tod verurteilt. Am Tag der Vollstreckung wird jedoch die zerstörerische Gewalt der Natur zu der Kraft, die ihnen das Leben rettet: Ein starkes Erdbeben verwüstet die Stadt und reißt unzählige Menschen in den Tod. Das Liebespaar überlebt und findet sich auf den Hügeln vor der Stadt samt dem gemeinsamen Kinde wieder. In einem Taumel von Glück und Dankbarkeit feiern sie gemeinsam mit anderen die Errettung des eigenen Lebens im allgegenwärtigen Chaos. Doch als der Priester auf der Dankesmesse der Überlebenden das Erdbeben als eine Strafe Gottes für begangene Sünden deutet, gerät die Menge außer Kontrolle und rächt das Unglück an dem Liebespaar.

Heinrich von Kleist, der Dichter, „dem auf Erden nicht zu helfen war“, stellt in seiner erschütternden Novelle die Frage nach dem Ausgeliefertsein bzw. der Verwirklichung des Einzelnen gegenüber Natur und Gesellschaft. Und nach dem seltsamen Verhältnis zwischen Glück und Unglück. Sie ist aber auch eine Betrachtung darüber, wie nah das Schönste und das Schreckliche im Menschen beieinander liegen können.
Mit Anina Polasek und Werner Michael Dammann

Realer Wahnsinn: Brazilification

„Brazilification“ von Die neue Dringlichkeit kommt als sinnbildstarkes Zwei-Personen-Stück daher, zieht sein Publikum von Beginn an in den Bann der Erzählung, schafft es dann mühelos, die Spannung aufrechtzuerhalten und bleibt bis hinein in die letzten Momente – in welchen dunkelhäutige Neugeborenenpuppen in rascher Folge auf die Bühne geschleudert werden – unvorhersehbar.

Als metaphorisch stimmige, humorbegabte Auseinandersetzung beheimat sich das nur scheinbar zeitgebundene Dokument „Brazilification“ im Grenzgebiet von bestürzender Tatsachenbeschreibung, tragikomischer Realsatire, Anklage und politisch unkorrekter Intervention in übermächtige Gegebenheiten scheinbar geewigter Unrechtssystematiken. So entwickelt sich aus performativer Erinnerung altbekannter Weltverhältnisse und jüngst erkannter autobiografischer Realitäten eine unterhaltsame Wilderei im gesellschaftskritischen Sujet.

Selten geht man ins Theater und findet vor, was man vorfinden möchte, und gleichzeitig solches, dessen man vorzufinden nicht zu hoffen gewagt hatte. „Brazilification“ erfüllt gleich beiderlei Erwartung, ist intelligent, aber nicht verkopft, kurzweilig, aber mit langem Atem, inszenatorisch überzeugend, aber unperfekt geblieben – kurzum: Ein Bühnenwerk wie angegossen für den TD.

In Sao Paulo gibt es Hubschrauber-Taxi-Unternehmen, damit die Reichen den Boden nicht mehr betreten müssen, der ihnen unsicher scheint. Der Begriff Brazilification steht in Douglas Couplands Kult-Roman „Generation X” für: „The widening gulf between the rich and the poor and the accompanying disappearance of the middle classes”. In Brasilien werden Vorgänge sinnlich fassbar, die auf globaler Ebene nur abstrakt zu verstehen sind: Das Auseinanderklaffen zwischen Arm und Reich, der Zusammenhang zwischen struktureller und physischer Gewalt und die Folgen der totalen Entfesselung des Marktes. Miriam Walther Kohn und Christopher Kriese sind zwischen Brasilien und Europa aufgewachsen; Marcel Grissmer ist nach der Schule als Aussteiger in dem südamerikanischen Land hängen geblieben. In Brazilification nehmen sie ihre Erfahrungen vor Ort als Ausgangspunkt für eine autodokumentarische, performative und politische Suche nach ihrer eigenen Positionierung und Möglichkeiten der Intervention.

gefolgt von: Saving Philotas (Film)

kriese/walther/grissmer befragten in Tel Aviv zusammen mit jüdischen und arabischen Jugendlichen das Schicksal von Lessings Titelhelden Philotas und fanden erstaunliche Antworten. Das Theaterprojekt entstand an der jüdischen Aleph High School und der arabischen Ajyal High School, die für das Projekt erstmals kooperierten. Premiere feierte Saving Philotas am 15. Juli 2012 im Arab-Hebrew Theatre. Der Prozess des gemeinsamen Theatermachens wurde zur Metapher für ein friedliches Miteinander. Um die Erarbeitung des Projektes und seine Bezüge zum Nahost-Konflikt zu reflektieren, entstand ein Film, dessen Rohfassung im Anschluss an Brazilification gezeigt wird.

Langeweilespannung in jedem Atom

Ein inszenatorischer Grenzgang: lange Weilen, Einsamsein, hoch verdichtete Fragmente, frappante Finessen – interessant! Im TD, Berlin-Mitte.

< Constant Bliss In Every Atom (bliss: Glückseligkeit) zu spüren, stellt ein Lebensprojekt dar, dessen Unmöglichkeit uns allen angesichts unserer bisherigen Erfahrungen auf diesem Planeten ebenso selbstverständlich erscheint wie die mit nichts zu vergleichende Attraktivität seines Gelingens. Der US-amerikanische Autor David Foster Wallace hat, bevor er sich im Jahr 2008 von schweren Depressionen zerrüttet das Leben nahm, in seinem Fragment gebliebenen letzten Roman The Pale King eine Figur erschaffen, die uns provoziert, da sie genau dieses Projekt erfolgreich lebt. Das Beunruhigende an dieser Figur ist, dass ihre konstante Glückseligkeit gewissermaßen auf dem Friedhof all unserer westlichen Lebensgewohnheiten und Glücksvorstellungen wächst. Shane Drinion ist, von außen betrachtet, einsam. Er ist, von außen betrachtet, maybe the dullest human being currently alive. Er ist nicht attraktiv.

Er ist radikal unscheinbar, beinahe ein Nichts. Er ist zuhause in der Langeweile und hat dort, unbemerkt von allen, ein Königreich der Lebensfreude errichtet. Er hat für sich, im selbstgewählten Abseits, all die Probleme gelöst, mit denen sein Erfinder sich in seinem letzten Lebensjahrzehnt denkend und schreibend herumgeschlagen hat: Wie kann man das Erwachsenenleben mit all seinen Frustrationen und Routinen aushalten? Wie die Einsamkeit bekämpfen? Wie kann man, um Himmels willen, andere Menschen oder sogar sich selbst wirklich lieben?

Die Erkenntnisse, die der Autor aus diesem Kampf getragen hat, den er als Mensch am Ende nicht gewinnen konnte, haben wir zum Gegenstand unserer Probenarbeit gemacht — und uns nach seinem Helden Shane Drinion benannt. Was auf der Bühne zu sehen sein wird, ist nicht eine Eins-zu-Eins-Aufführung von Wallace’ Texten. Es ist das Ergebnis unserer Lektüre davon. Es ist der Versuch, eine neue Art zu finden, literarische Texte auf die Bühne, sprich in ein anderes Medium, zu bringen, indem man sie nicht auf der Bühne wiederholt, sondern sie durch sich hindurchgehen lässt und sie dann selber, mit dem Körper und der eigenen Sprache, erneut schreibt, überschreibt und dadurch etwas Neues, Drittes erschafft. > Shane Drinion

Welt als Warenkorb

Der Urknall betritt den nackten Bühnenraum des Theaterdiscounter. Ein bisschen wahnsinnig scheint er bereits von Natur aus zu sein. Der Blick auf die Weltverhältnisse des Planeten Erde scheint diesem Wahnsinn Rechnung zu tragen, und er hat die sarkastische Haltung des Urknalls geprägt: „Die Nacht ist das Zuhaus. Millionen Eulen können nicht irren.“ Tiefe Traurigkeit und Verletztheit schwingen da mit und eine ungeheure Humorbegabung.

Mit „Das Urknall-Syndrom“ hat Christian Saak unserer gesellschaftlichen Realität ein stimmiges Mahnmal gesetzt. Als leidenschaftliches Manifest eines an der Welt Erschrockenen offeriert er dem Publikum nebst des Genusses einer unverhofft intelligenten, lyrischen Sprache auch das Vergnügen an der Dechiffrierkunst. Denn der Autor ergeht sich nicht in bloßen Theorien und Hypothesen, sondern widmet deren Essenzen den Perversionen staatsbürgerlicher Lebensrealität. Diese Auseinandersetzung durchdringend, entwirft Christian Saak eine erstklassige Jobcenter-Realsatire, die auf die Renitenz menschlicher Würde hoffen lässt und der man offene Ohren vonseiten des Publikums wünschen möchte.

Mit Heide Kuhl hat der Autor die geeignete Darstellerin für dieses Spannungsfeld gefunden. Ihre umfängliche Erfahrung als Clown erweist dem Bühnenwerk einen ausgezeichneten Dienst und der unrechtsstaatlichen Wirklichkeit eine angemessene Zeichnung. Text und Spiel legen den Finger mitten in die klaffende Wunde des zur Warenförmigkeit zugerichteten Individuums. Charaktere wie „Daisy Dinger“ und „Universal Enlargements Girl“ entpuppen sich daher rasch als Synonyme und Metaphern für den Status quo des kollektiven ethischen Bewusstseins.

„Das Urknall-Syndrom“ ist wütend reflektierendes Schauspiel, handgemacht und humorvoll, kurzum: Bezaubernd. Mehr davon!

/ hier entsteht in Kürze eine Welt
/ ein Mysterienspiel in Echtzeit

Hier geht’s um nichts Geringeres als genau den Moment, wo Alles begann. An einem Abend, an dem noch nichts da ist, tritt gegen ein kleines Honorar der Urknall höchstpersönlich auf und wird uns sagen, wie es wirklich war. Denn wir brauchen einen Anfang. Ein phantastischer Moment, wo alles scheinbar auch noch ganz anders hätte werden können. Und doch wohl auch anders hätte werden sollen? Ohne Anfang ist das Ende schwer. Kämpfen wir gemeinsam gegen die Desinformationskampagnen der Geheimdienste und Lobbyisten! Kinder des Alls, das ist keine Übung!

Das Urknall-Syndrom switcht zwischen irdischen Details und kosmischem Überblick, zwischen Materie, Raum, Zeit und allem was uns heute in seiner scheinbaren Stabilität so erfreulich und lähmend umgibt: schönen, traurigen und absurden Realitäten und möglichen Paralleluniversen. Die Physik hilft uns da nicht weiter. Astronomen sind sowieso Scheiße. Und seien wir ehrlich: Theorien, die nur zehn Personen verstehen, wirken schon bei Fußballspielen deplatziert.

Hier erfahren Sie, was der Urknall vor dem Urknall fühlte, bekommen ein komplexes Verständnis vom Anfang aller Dinge, der so ziemlich hier sein kann oder auch so ziemlich dort. Anwesend sind neben dem Urknall: das Universal Enlargements Girl, der Astronaut, einige Konjunktive, die fabelhafte Daisy Dinger und der Rest der Welt. Auch die Kranken können kommen. Und wenn das Universum erst aus der Warteschleife der Kundendiensthotline von Universal Enlargements Eclectrical Industries befreit worden sein wird (Futur II), können wir uns auch der Beantwortung weiterer Fragen zuwenden: Wer fängt uns, wenn wir fallen, auf? Wo sind die Jungs vom FBI denn jetzt? Werden wir diesmal tun, was wir uns vorgenommen haben? Und: Wann kommt endlich eine Durchsage?

Von Christian Saak. Mit Heide Kuhl als Der Urknall, Sabine Penschow als Universal Enlargements Girl, Etta Streicher als Die dritte Person, Miriam Töpfer als Daisy Dinger.

Petra Kelly neubelebt?

Petra Kelly als ihr eigener Geist: eine gutgemeinte Fiktion, liedhaft dargeboten, zahnlos ausgekostet. Schade.

<Die Bairishe Geisha: Kellyfication / politisches Theater aus privaten Gründen

Die bairishe Geisha ist in der Provinz aufgewachsen. Regional war Waldsterben. International war die atomare Bedrohung. Petra Kelly war ein Star der internationalen Friedens-, Frauen- und Ökologiebewegung, Aber gestorben ist sie in Deutschland, in einem Reihenhaus in Bonn. Das war 1992. 20 Jahre danach fragt Die bairishe Geisha: Welche Gesellschaft formt solch widersprüchliche Persönlichkeiten wie Petra Kelly und Gert Bastian? Was muss sich ändern, damit eine Frau psychisch und physisch gesund an der Macht teilnehmen kann? Hat sich wirklich schon was verändert seit Petra Kellys Tod? Wer setzt sich durch in der Politik? Und im Theater? Gibt es da Parallelen? Im 20. Todesjahr von Petra Kelly gibt die eigens von der bairishen Geisha zu diesem Anlass  gegründete Formation Beides Geister ein Gedenkkonzert für die Ikone der Grünen-Bewegung Deutschlands. Die Frau, die ihr Leben dem Frieden widmete, die die Zärtlichkeit in die Politik bringen wollte, wurde 1992 von ihrem Lebensgefährten Gert Bastian im Schlaf erschossen. Zwischen den Bandmitgliedern von Beides Geister spielen sich Szenen ab, die Parallelen zu Petra Kellys politischem und privaten Leben aufweisen. Auf der Bühne werden Judith Huber und Eva Löbau unterstützt von Kristof Schreuf, dem bourgeois with guitar aus Hamburg. Er wird sie überfordern mit seiner Präsenz und seinem Können genauso wie sie ihn überfordern werden mit ihrer Zähigkeit und mit ihren Schwächen. Doch die beiden Frauen sind nicht immer solidarisch in ihren Zielen. Das Duett wird zum Duell. Die Songs von Beides Geister sind erschossene Friedenslieder, die brüllen: „Kommt man da heil wieder raus aus der Liebe und aus der Politik?“>

Beide Messies auf Freiheitswanderung

Wie bereits am vorgestrigen Tage, so werden wir auch heute wieder Zeugen einer einzigartigen Performance zweier Ausnahmekünstler, denen kein Zauber fremd und jede Realität tauglich ist. Andreas A. Müller und Bo Wiget schöpfen erneut aus dem Vollen und Ganzen ihrer Phantasie. Wieder werden die Dinge der Welt wahlweise auf den Kopf gestellt oder auf die Füße, wieder horchen wir dem absurden Moment, und abermals sind wir „Teil des stillen Geknets“.

Denn Beide Messies tragen den unsichtbaren Mantel der Freiheit in erstaunlicher Eleganz und innerer wie äußerer Anmut – smart, entrückt und doch immer ganz und gar anwesend. Ihr Spiel folgt einer Dramaturgie, bei der viel Luft für Experimente und spontane Eingebungen bleibt. Wenn sie Lieder darbieten, dann klug, ironisch, ernsthaft, satirisch, absurd und immer auch berührend. Multiinstrumentalist Bo Wiget liefert den geigneten Soundtrack zum schönen Wahnsinn.

Kaum zu verwundern vermag angesichts des offenkundigen Enthusiasmus der beiden ihre selbstbewusste Haltung. „Wir haben auch keine Wahl“, antwortet Andreas A. Müller, als ich ihn auf Motivation und Leidenschaft anspreche. Dass sich viele Menschen für virtuos-absurdes Theater nicht erwärmen lassen, lässt den charismatischen Künstler kalt. Denn zur „Freiheitswanderung“ – auf der Bühne wie im Geiste – sieht Müller mit Recht keine Alternative.

Daher möchte man Beide Messies wünschen: Werdet wie ihr seid, und bleibt wie euer Werden ist – zauberhaft.

„Beide Messies: denken über ihre Zukunft nachim Theaterdiscounter.

2007 entstand das Berliner Duo des Tänzers und Songwriters Andreas A. Müller und des Cellisten und Komponisten Bo Wiget. In verschiedenen Produktionen arbeiten sie seit 2003 zusammen. Das Verschmelzen und Überschneiden verschiedener Kunstformen ist den beiden in Fleisch und Blut übergegangen. Beide Messies Performances sind zwischen Konzert, Tanz, Kabarett und Art-Happening einzuordnen, wo auch Improvisation improvisiert und so der Showkatze in den Schwanz des Zuverlässigen gebissen wird. 

Beide Messies atmen Kunst

Und dann ist es eben doch so, dass die besondere Größe eines Performancekünstlers sich in genau dem Moment zeigt, wo er auf die Bühne tritt… vor lichte Reihen. In diesem Fall zum besonderen Vergnügen des Publikums, da die beiden Künstler ihr Schauspiel mit verbundenen Augen beginnen und sich dabei innerhalb der ersten zehn Minuten aus der Tiefe des Raums bis ganz nach vorn arbeiten, wo sie dann die Augenbinden abnehmen, um festzustellen: Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun, zehn, elf, … zwölf. Beide Messies zählen das Publikum.

Und nun? Wo andere der Schlag treffen würde, ihnen wenigstens die Motivationskurve nach unten schnellen würde, im Geheimen einige Bitterkeit aufkäme, nehmen Beide Messies die Hürde einfach in umgekehrter Weise und bieten dem Publikum ein nicht weniger als zweistündiges Festspiel unbändig-virtuoser Leidenschaft dar. Wir ahnen: Anspruch und Humor der beiden sind nicht gespielt. Am aufkommenden Seelenheil beteiligen sie die Zuschauer mittels Knetmasse. Angemessenerweise nennen sie dies „Seele kneten“. Niemand also wird das Theater später unbeseelt verlassen müssen. Und wir ahnen: Die üblichen Gesetze von Schau und Spiel gelten hier nicht – nicht für die und nicht für uns.

Im weiterhin heiteren Handlungsverlauf des von musikalischer Eingebung, spontaner Verwüstung und zufälligen Unfällen reichhaltig genährten Gesamtkunstwerks erleben wir neben allerlei feinsinnigem Liedgut und brillant-bezaubernder Instrumentierung auch die zufällige Erfindung des „Erdnusswalzers“. Schnell wird klar: Das Verhältnis der beiden Protagonisten zur Kunst ist ein ebenso wissenschaftliches wie religiöses. Dass wir ihrer Schöpfung beiwohnen dürfen, ist das größte Geschenk, dass Andreas A. Müller und Bo Wiget der Welt machen können. Doch man wisse: „Religion ist auch nur Kunst“. Im Theaterdiscounter.

Beide Messies: denken über ihre Zukunft nach

Bo Dog Wiget und Andi All. Müller erheben den Anspruch, mit Wort-, Musik- und Bewegungswitz das heillose Ordnungsdurcheinander der Welt aufzuräumen. Ihr wucherndes Gesamtkunstwerk besteht aus einer kaum mehr überschaubaren Sammlung von Liedern, Tänzen, Videos und Gegenständen für Schwache, sehr Schwache, Tiere und andere Gäste, kurz: einem Wechselbad der Gefühle und Gedanken, Erwartungen und Enttäuschungen. Und und.

In der Adventszeit stehen sie zur Verfügung, um Kommendes und Angekündigte zu besingen. Denn es kommt eine Zeit des Honigorakels, in der Honig in die verstopfte Zeit des Feierns gepumpt wird. Es kommt eine Zeit, in der andere Krippen nach neuen Protokollen umtanzt werden. Es kommt eine Zeit, frische Kaffeesätze aus den Anden zu lesen, für die Alten von morgen. Und es ist an der Zeit, mit Musik und Tänzen Abwesende zu beschwören und Anwesende in ihr Anwesen wieder hinein zu versetzen. Das düstere Dunkel des horror vacui, der No Future-Sorge und des unstillbaren Erdnüsschenhungers weichen durch Beide Messies dem Licht des Trosts in steter Unordnung.

Dazu bringen Beide Messies alles mit: Bienenwachskerzen, den immerwährenden Imkerkalender, Buttermürbeteig, beide Krawatten, Cello und Bogen, beide Ukulelen, beide Nasenflöten, beide Fundsachen, Bienenstock und Stab, Bienenfell und Jacke, Bravo-Musikposter, bestechende Minimonologe und Titel wie beispielsweise „Innendrinnen isses hell“, „Diskohunger“, „Mut und Vernunft” oder Alt + Nichts geleistet”, Kalakogathie”, Die Familie ist die kleinste Zelle”, Personenkult” und Lieber Schrott”.

Eine lange Ausführung von gar nichts

Noch unentschieden, ob „Eine kurze Einführung in die Onanistik“ von Sebastian Lang und Leo van Kann als männlich-juveniles Versuchsscheitern oder eher als abendraubendes akademisches Gewichse in die Geschichte der Langeweilekunst einzugehen vermöge – im dümmsten Fall wohl beides –, beschließe ich nun hiermit, über diese ganze Sache Stillschweigen zu bewahren. Amen.

Oder man ersetze „Ein-“ durch „Irre-“ und nehme es wie es ist.

„Eine kurze Einführung in die Onanistik wartet mit zwei hyperperformativen Performern auf, einem tragischen Sportstar, dem ältesten Jogger Deutschlands, und einem Jungschauspieler, der sich im Netz der Authentizität verfängt.

Die abendfüllende Zwei-Mann-Show ist eine unwissenschaftliche Revue mit echtem Forscherinteresse, eine intelligente und überraschende Auseinandersetzung mit Glanz und Tragik des sich ganz in nur eine Tätigkeit einsam verstrickenden Menschen. Und ist ganz nebenbei auch eine Auseinandersetzung mit dem völlig getrennten und widerspruchslosen Nebeneinander unterschiedlichster kultureller Nischen in der westlichen Hemisphäre…

Soviel wissen wir: Onan ließ seinen Samen auf die Erde fallen, statt nach göttlichem Plan ein Kind damit zu zeugen. Klarer Vorteil für Onan, der seiner Tätigkeit nachgehen konnte wann immer er wollte, unabhängig von anderen Menschen, Frau oder Mann. Dies aber erzürnte Gott: Er hatte die Menschen extra alle möglichst unterschiedlich designt und wollte, dass sie einander in den vielfältigsten Konstellationen möglichst oft begegneten und sich dabei aneinander und nicht nur an sich selbst erfreuten. Er benannte das 21. in Das Onanistische Jahrhundert um und strafte dessen Bewohner mit einem Leben, das dem des Onan von Jahr zu Jahr mehr ähnelte. Und dabei ging es weniger um Sex. Die Leute taten einfach alles nur noch alleine oder mit Leuten, die genauso waren wie sie und das genau Gleiche wollten. Sie gingen zum Beispiel dauernd alleine joggen, verreisten anstatt mit ihren Freunden bloß mit ihrem Rucksack oder veranstalteten Performances, deren einziges Thema die Performance selber war. Nichts kam dabei heraus und die Menschen nicht zueinander. Und so beschloss Gott, mal wieder ins Theater zu gehen: unter Menschen.“