Wolken drohen wie Geister

Weinende Kinder!
Des Regenschauers Wolken
drohen wie Geister.

Kobayashi Issa (1763-1828)

Und ich gedenke dieser Tage vermehrt meiner bereits verstrahlten, japanischen Schwestern in den Anführungszeichen.

Toru Kono wechselt zwei Monate nach Beginn des Schuljahres auf eine Jungenschule. Die dortigen Schüler haben die Tradition entwickelt, aufgrund des Fehlens an Mädchen die hübschesten Jungen zur Schulprinzessin zu küren. Toru wird unerwartet zu einer Prinzessin gewählt, aber im Gegensatz zu anderen gefragt, ob er diese Rolle übernehmen möchte. Nach anfänglichem Widerstand stimmt er zu, da er als „Schulprinzessin“ hohe Privilegien genießen könnte.

Yujiro Shihodani ist die „Ostprinzessin“. Mikoto Yutaka ist die „Westprinzessin“, will jedoch eigentlich nichts damit zu tun haben. Ost- und Westprinzessin sind verschiedene Bezeichnungen für die „Schulprinzessinen“, die die Schule in zwei Lager spalten. Die einen vergöttern die „Ostprinzessin“, die anderen die „Westprinzessin“. http://de.wikipedia.org/wiki/Princess_Princess

Das Alte hören wir vom Lehrer.
Das Neue erfahren wir aus der eigenen Erkenntnis.
Haben wir Erkenntnis erlangt,
liegt das, was wir lernen,
in uns,
und das den Menschen
auf ihre Fragen zu Antwortende
ist ohne Grenzen.

Ishida Baigan (1685-1744)

Zeichen setzen: Ja sagen

Sonntag, 13.02. – Volksentscheid: Wir wollen unser Wasser zurück!

Ins Wahllokal gehen und JA ankreuzen: das ist, was du für dich, deinen Geldbeutel und in Verantwortung für deine Mitmenschen tun kannst, also tu’s! Übernimm dieses kleine Stück Verantwortung und sag damit auch, dass du es gut findest, dass die Leute in den parteienunabhängigen Initiativen ihre Zeit und Kraft dafür geben, sich für eine gerechtere Gegenwart einzusetzen.

In Berlin ist das Wasser so teuer wie nirgendwo sonst. Das liegt in erster Linie daran, dass der Senat die Wasserbetriebe teilverkauft hat und den Konzernen RWE und Veolia in sittenwidrigen Geheimverträgen satte Gewinne garantiert.

Bereits 2007 haben wir damit begonnen, Unterschriften zu sammeln, um ein Volksbegehren anzuschieben. Ich erinnere mich gut, wie wir dafür Tag um Tag, Woche für Woche durch die Stadt gezogen sind. Wir haben viele dankbare Menschen getroffen, unser Bündnis erweitert, unsere Übersichtsplattform zum Thema Privatisierung – unverkäuflich – gefüttert, Veranstaltungen organisiert, Interviews gegeben und unzählige Artikel geschrieben.

Nachdem wir die erste Stufe mit den notwendigen 20.000 Unterschriften erreicht hatten, folgte die zweite, in der 281.000 (!) Menschen ihr Ja-Wort gaben. Deshalb wird jetzt, vier Jahre später, in einem Volksentscheid abgestimmt, und es kommt tatsächlich auf jeden Einzelnen an, denn in vielen Medien wird das Thema weithin totgeschwiegen. Die öffentlich-rechtlichen Medien berichten deutlich leiser als bei früheren Volksbegehren. Woran das liegen mag, bleibt politischer Spekulation überlassen.

Das Ergebnis ist bindend, also los! Sonntag, 13.02.: Ja sagen!
Mehr Infos hier: Berliner Wassertisch

Ihre und Eure

Ostprinzessin

„Normal ist das nicht mehr!!!“

Kein Recht auf Hiersein?“, fragt meine Freundin Alexa Kaufhof. Dem Bürgermeister von Berlin ist das egal, die Kandidatin Renate Künast findet’s okay und die Protagonisten der „Die Linke“ schweigen auffallend laut. Taubstumme Analphabeten können dagegen geradezu als eloquent gelten.

Andreas Meincke, der parteilose Bürgermeister des uckermärkischen Tantow, wittert „bekloppte Autonome“ und erklärt mir, was ich wissen sollte, leider jedoch nicht das, was ich wissen wollte. Andreas Schwarze, sein linker Vize, hält das Ganze zwar für „politisch ein Stück weit gewollt“ und „irgendwo traurig“, aber lässt sich dann einfach wegtragen, wie es uns R. Bernstein in einem hervorragenden Kommentar genauer erläutert. „Sich wegtragen lassen bedeutet genau das: Nämlich, dass man sich wegtragen lässt.“

Und während die Wellen aus der Berliner Liebigstraße dank der exakt recherchierten Lügen des Tagesspiegel bis in die Uckermark schwappen, versinken die letzten bunten Inseln in den Fluten real existierender Normalität.

Ihre und Eure

Ostprinzessin

Land, das uns wird

Hinausgewunden, auferstanden
im Trümmerbrand der Träume,
ausgekratzt dem braunen Schoß
und in Habschaft aller Plagen
zu neuer Groß Nation gefunden,
ihrer Dichter erlöst und Denker,
unschuldig gebärend die Richter
über alles, über alles in der Welt,
Heil ergeben deutscher Religion
– dem Arbeitsorden Ehr erweisen,
trauter Heimat Dienst geleisten,
ihren Segen tragen: Kaufenskraft.

Heutgenossen, höret der Ahnen,
dereinst ward zurückgeschossen,
vollen Herzens, wachen Geistes!
Doch schnelle Hand, gib Acht,
wer nicht wacht, baut Autobahnen,
sie sind des Glückes Unterpfand.
Ihr in misslicher Lage, noch –
in Haft, verpfändet, abgebrannt
– bekennt, wisset aller Macht,
da ihr habt, was eurer bedarf,
Land zu werden im Innern euch:
Luft und Liebe, ein Du, ein Wir.
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Zum Tag der Heiligen Deutschen Einfalt.

Hartgekocht

Das Ei im Dialog – es
ward im Monolog nicht
froh, drum blieb es,
als Richtung Kopf es
flog, doch lieber roh.

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Gewidmet den Erfindern von Hartz IV.

Berlin adé

Berlin: Das traumlose Zeitalter des kulturellen Verfalls fordert ein weiteres Opfer. Während in der Hauptstadt nahezu sämtliche faszinierenden Kulturprojekte der letzten Jahrzehnte ihrer politisch gewollten Auslöschung harren, ereilt uns eine weitere traurige Nachricht. An der Hasenheide in Kreuzberg wird derzeit der Club Cheetah aus den 60er Jahren entsorgt. Ende der 60er wurde er im Raumschiff-Enterprise-Stil in die Räume eines ehemaligen Großkinos hineingebaut und verfügt über 22 sogenannte Inseln, die sich über mehrere Ebenen und eine Galerie erstrecken. Die Eilande sind über Brücken und Treppen miteinander verbunden. Disco und Gastraum verbindet ein Tunnel. Zwei Röhren führen vom Eingang hinein in die größte Disco ihrer Zeit. Acht Tanzflächen warteten auf tanzwütiges Publikum, das in den besten Zeiten des Clubs in bis zu hundert Meter langen Warteschlangen auf Einlass hoffte, um dann Highlights wie die fahrbare DJ-Kugel zu bestaunen.

Der ehemalige Besitzer hatte sich im Betrieb und mit dem Einbau einer Saunaanlage im Keller des Hauses verhoben. Neue Besitzerin wurde ein Kreuzberger Unternehmen (Taekker: Immobilien im zentralen Berlin) mit Sitz in Dänemark, welches das Gebäude in einer Zwangsversteigerung erwarb.

Vor einiger Zeit noch wurde der Club zur Miete angeboten. Im Jerry-Cotton-Film Todesschüsse am Broadway zeigt sich das Cheetah noch von seiner lebendigsten Seite. Da jedoch weder potente Kulturinteressierte noch Senat oder Bezirk das ob seiner Technik, Architektur und kulturellen Bedeutung einmalige, schützenswerte Kleinod der 60er erhalten wollen, ereilt den Hydraulik- und Designtraum nun das – durchaus abwendbare – Schicksal des Großen Saals im Palast der Republik, welcher über weltweit einzigartige Technik und Installationen verfügte und dennoch dem langweiligen Einerlei gleich gemacht wurde. Luftschloss lässt grüßen. Danke, rot-roter Senat, danke, grün-rotes Bezirksamt, hoch soll sie leben, die totale Verwertungslogik!

Ostprinzessin

Cheetah, Hasenheide Cheetah, Kreuzberg Club Cheetah, Berlin-Kreuzberg

Denn wir sind wieder wer

Weshalb der Typ im Unisex-WC des Musikclubs meinen Urin trank – plötzlich und unvermittelt, aus der Pinkelrinne heraus – das kann ich nicht genau erklären, dazu befragt habe ich ihn nämlich nicht. Denn schließlich leben wir ja in einer von Anonymisierung durchsetzten Wirklichkeit, in der uns die Begehren der Mitmenschen fern und versteckt erscheinen, so sie sich nicht – offen zur Schau getragen – unserer Wahrnehmung aufdrängen. Verroht werden es die einen nennen, sinnenfreudig die anderen. Mir hingegen fehlen dafür schlicht die Worte; über eines jedoch bleibe ich mir im Klaren: Eine echte Schamlosigkeit ist mir genauso lieb wie eine echte Scham.

En vogue ist derweil eine neue Biederkeit, die an Realitäten der 50er Jahre erinnert, während zu gleicher Zeit eine sich fortsetzende Verrohung der Sitten aufblüht. Beides lässt sich gut an der Entwicklung der Musikszene ablesen und dort insbesondere am von strikt marktorientierten Akteuren beherrschten Business: Im populärkulturellen Segment steht zur Schau getragene Softsex-Attitüde de hoch im Kurs, welche – gepaart mit scheinbar provokanten Gesten –, einen gewissen Anspruch auf gesellschaftliche Unangepasstheit beweisen soll, dem sie freilich an keiner Stelle tatsächlich entspricht. Dem Konsument bietet sie jedoch die Reflexionsfläche für sein Bedürfnis nach Ausbruch, Wildheit und Ekstase. Wo bereits Madonna schnell an die Grenzen ihrer Glaubwürdigkeit geriet, dort beginnt die Welt der Lady Gaga, in der sich die sinnliche Beliebigkeit der zu Humankapital transformierten Menschheit derzeit wohl am umfassendsten widerspiegelt: Ihre Accessoires wirken mitunter wie computergenierte Verlegenheitslösungen, zusammengestöpselt aus einem unerschöpflichen Pool an Persönlichkeitsausweisen, während sich hinter der lauten Sichtbarkeit ihres Tuns nicht viel mehr als ein umfassendes Sinn- und Gefühlsvakuum auftut.

Und auch in der sogenannten Indieszene stehen Revoluzzerposen anstelle inhaltlicher Streitfragen, generieren sich einzig und allein zum Zwecke des vermarktungsfördernden Moments, verbreiten sich als Mode ohne gesellschaftsrelevante Botschaft und bleiben somit Selbstzweck. Im Gegensatz zu frühem Punk oder der weithin gefürchteten Rocker-Mode fehlt heutzutage den von musikkulturellen Szenen geprägten Mode-Statements der Thrill. Vielleicht ist tatsächlich der Manga-Style des viel geschmähten Tokio Hotel-Sängers Bill Kaulitz noch die gewagteste Inszenierung, weil der Zeichentrick in seiner Fleisch gewordenen Verkörperung immerhin mit alten Sehgewohnheiten bricht. Denn geschlechtliche Uneindeutigkeiten führen nach wie vor zielsicher zu Anstoß erregender Verwirrung. Jede Transe kann davon ein Lied singen. Selbst in Berlin-Mittes Torstraßenviertel, das sich im Angesicht seiner urbanen Versprechen auch bei Touristen und Zugezogenen großer Beliebtheit erfreut, kann sie keine zwei Ecken weit gehen, ohne angepöbelt oder lächerlich gemacht zu werden.

Es könnte womöglich der Schluss naheliegen, dass die eigentliche Provokation in der Besinnung auf „wahre Werte“ läge. Doch geistern besagte Werte ohnehin als Untote durch das systemgenerierte Netzwerk namens Gesellschaft: Allenthalben finden sich Wünsche und Bilder aus längst vergangen geglaubten Zeiten ganz oben auf der Beliebtheitsskala. Entsprechend bieder fallen nicht nur die „Kunstwerke“, Musik- und Videoproduktionen etablierter Stars aus, sondern auch die des Nachwuchses: Zwar im Cyberlook inszeniert und via iPhone, iPad, Facebook und Twitter permanent mit der Umwelt verbunden und scheinbar in regem Austausch stehend, verharren die persönlichen Werte an der Schamgrenze der 50er. Mädchen tragen ihr Haar lang, Jungs kurz, und der Wunsch nach dem Kleinfamilienidyll als „die wahre Lebensperspektive“ nährt sich aus dem Erlebnis der mäßig wilden Jahren der Jugend, das im Einklang mit der Entfremdung des gesellschaftlichen Ichs steht. Gleichzeitig präsentieren sich User in vielen Internetkontaktforen in sexuellen Posen, mit verrohtem Sprachgebrauch und abgestumpfter Sinnlichkeit.

Eine Perspektive auf nahezu vollständige Integration haben daher die neuen Schwulen zwischen 14 und 49. Für nicht viel mehr als einen Tag im Jahr in aller sich im Einzelfall schnell als Einfalt herauskristallisierenden Vielfalt öffentlich sichtbar, passen sich die Träume der meisten schwulen Männer an den 364 anderen Tagen im Jahr erst recht an die ihrer nicht-homosexuellen Konsumgenossen an. Wen würde es da also noch wundern, wenn die sog. Homo-Ehe unter schwarzer Führung eingeführt würde. Die neuen Schwulen haben sich längst assimiliert und nur wenige, so scheint es, haben darüber vorher umfassend nachgedacht. Das allgemeine Mitläufertum ist mittlerweile unter Schwulen mindestens so verbreitet wie in der Restbevölkerung. Der sexuelle Selbstverwirklichungswahn wird zwar von vielen homosexuellen Männern immer noch besser beherrscht als von heterosexuellen Zeitgenossen, doch im Allgemeinen können Schwule heute nichts besser als jene. Dies zeigte sich auch jüngst bei den Veranstaltern des Christopher Street Day (CSD), die auf Vorwürfe der Miterfinderin der Gender-Debatte, Judith Butler, den strukturellen Rassismus weitestgehend zu ignorieren, Kriegseinsätze zu verherrlichen und all zu sehr in die Kommerzialisierung abgerutscht zu sein, nicht nur sichtlich beleidigt, sondern – eine opulente Kleingeistigkeit offenbarend – dem Beifall klatschenden Teil des Publikums reflexartig entgegenhielten: „Ehrlich gesagt: Ihr seid hier nicht die Mehrheit!“ Die Mehrheit nämlich hatte es mit ihrem Assimilierungswillen so ernst genommen, dass sie den CSD vom traditionellen Datum , dem 26. Juni, aus Gründen der Staatsräson auf den 19. Juni vorverlegte: Ein Kniefall vor König Fußball. Dementsprechend waren neben den Fähnchen in Regenbogenfarben diesmal noch mehr schwarz-rot-gelbe Lappen zu sehen als in den Vorjahren.

Doch funktioniert der Eifer des Fußballsports vor allem auch als Durchlauferhitzer für Zugehörigkeitsgefühle; einmal mehr ist es das Mitläufertum, das den ohnehin latenten Drang zur Nationalisierung immer gefährlicher werden lässt. Und so müssen dagegen immunisierte Mitmenschen die bieder-ekstatische Heiterkeit der sich offenbarenden, patriotischen Glücksgefühle mit Fassung tragen, wenn sie nicht Gefahr laufen wollen, einer Anklage wegen Beleidigung staatlicher Hoheitszeichen ins Auge zu sehen. An den Fahnenmast mit vergoldeter Spitze, den mein Nachbar vor ein paar Tagen vor seinem Fenster fünf Meter hoch in den deutschen Himmel baute, werde ich mich also gewöhnen müssen – oder eben auch nicht. Und als vor mir ein sich als „richtiger Deutscher” bezeichnender Jugendlicher mit wehender schwarz-rot-gelber Fahne über der Schulter in einen prenzlbergischen Baumarkt hineinlief und dort Eltern und Bruder seine hervorragende Idee – „Wenn wir Weltmeister werden, lauf ich ’n ganzes Jahr überall als Deutscher“ – wissen ließ, wuchs bei mir die Hoffnung auf den Endsieg der spanischen Mannschaft exponentiell; et voilà…

Zwischen den späten 60ern und 1990 war es im Westen, im Norden und auch im Süden der Bundesrepublik Deutschland mitunter verpönt, nationale Symbole zu tragen, zu verbreiten oder sie sich gar ins Gesicht zu malen; nur Altnazis, Neonazis und rechtsgerichtete Bürgerliche hissten die deutsche Fahne. Und im Osten kannte man solche Bilder von inszenierten Aufmärschen. Offenbar ist das alles in Vergessenheit geraten. Seit der Einverleibung der DDR durch die BRD sind „wir“ ja wieder wer. Und schon war es aus mit der früheren Nachdenklichkeit – lang hatte sie nicht gewährt.

Ostprinzessin

Nachbars Fahne

Mitmachen, Ignorieren oder eine Axt zur Hand nehmen?

Rot-Rot geht über Leichen

Dem Sozialmieter Dieter Bernhardt wurde das Leben genommen.

Leichen pflasterten ihren Weg: Die Protagonisten des Berliner Senats haben dem Ausverkauf der sozialen Errungenschaften in der Stadtentwicklungspolitik nie abgeschworen. Zwar war das alte Fördersystem falsch, weil es in erster Linie der Bereicherung einiger weniger Bauherren diente, doch sinnvolle, soziale Änderungen wurden nie in Angriff genommen. Im Gegenteil: Die zuständige Senatorin Ingeborg Junge-Reyer (SPD) hat das Problem der dem freien Markt zum Fraß vorgeworfenen, ehemals öffentlich geförderten Wohnungen immer ignoriert bzw. noch befeuert.

Mehrere tausend Menschen sind betroffen. Der Senat verhöhnt die Betroffenen mit Umzugshilfen. Auch die vorgeblich sozialer ausgerichtete LINKE hat bislang nichts für die Entschärfung getan, obwohl ihr die sich derzeit zuspitzenden Nöte der Mieter bereits seit vielen Jahren bekannt sind. Stattdessen werden überall in der Stadt weiterhin Aufwertung und Inwertsetzung von LINKEN mitorganisiert. Und vereinzelte Sonntagsreden gegen die Verdrängung von sozial schwächeren Mietern aus den innerstädtischen Wohngebieten haben sich stets als Augenwischerei entpuppt.

Dieter Bernhardt ist nicht der erste Sozialmieter und er wird nicht der letzte sein, der aus dieser Bedrängung für sich selbst keinen Weg mehr findet. Im März war seine Leidenschaft für das Leben noch ungebrochen:

„Liebe Ostprinzessin,

(…) Ja es ist eine Katastrophe, war gerade in Steglitz in einem Gebäudeblock mit 6 Eingängen, also über 100 Wohnungen. Das steht seit längerer Zeit unter Insolvenz und die Mieter ahnen gar nicht, was da auf sie zukommt. Wir müssen uns bündeln und vielleicht sogar zivilen Ungehorsam organisieren, denn anders reagiert die Politik nicht (…).

Liebe Grüße

Dieter“

Avantgarde verpflichtet

Heute vormittag weckte mich die Sonne. Derart sanft und überaus zärtlich geweckt, beschloss ich, dem Tag etwas ganz und gar Erhabenes zu verleihen. So eilte ich zu einer – die zeitgenössische Gesellschaft, in der wir leben, bezeichnenden, weil spärlich besuchten – Filmaufführung. Nie zuvor habe ich einen Film von Werner Schroeter gesehen; nun muss ich wirklich sagen, dass ich dies bereue.

Vor nicht einmal zwei Wochen ist er verstorben, daher sprachen vor der Aufführung noch Elfi Mikesch, Rosa von Praunheim und Ulrike Ottinger, die recht treffende Worte fanden über Vergangenheit und Gegenwart der Bedingungen des Schaffens. Die Ottinger wollte jungen Menschen Mut machen, es zu wagen, den eigenen Ausdruck zu finden und ihm kompromisslos, gegen alle Widrigkeiten, zu folgen. Rosa sprach davon, dass Werdegänge wie der Werner Schroeters oder einer der (anwesenden) Kollegen heute nicht mehr möglich seien, denn damals, als sie begannen, haben Strippenzieher in den Medien – ob offen oder heimlich – so manchen Regisseur und so manche Filmemacherin protegiert, um an der Modernisierung der Gesellschaft teilzuhaben, Verkrustungen aufzubrechen. Das werde nun für lange Zeit nicht wiederkehren, so die nüchterne Analyse.

Dem stimme ich vorbehaltlos zu – und doch möchte ich alles in meiner Macht stehende dafür tun, dem entgegenzuwirken.

Jene Persönlichkeiten, in deren Sphäre auch Ingrid Caven beheimatet ist, empfinden eine ähnlich starke, poetische Autonomie. „Der Rosenkönig“ – ein Film, in dem jedes einzelne Bild, jede Perspektive wunderschön ist, dabei mehrfach gebrochen – im Sinne von Bedeutung und Hintersinn steigernder Intensität – an Ruinösem, also nicht etwa auf Hochglanz poliert. Mit einer unfassbar starken Magdalena Montezuma – einer Sehenden, an deren debil funkelnden Ausdruck allenfalls die ihr wie aus dem Gesicht geschnittene Cora Frost heranreichen mag -, die zwei Wochen nach dem Dreh ihrem Krebs erlag, zu gern jedoch bereits während der Arbeit gestorben wäre.

Solch ein Werk ist von der Poesie des Schöpfens wie der des Scheiterns, des Nicht-Sein-Könnens durchtränkt, und doch befeuert es die Lust auf gerade genau diese höchsten Formen des Werdens.

Ihre und Eure Ostprinzessin

Einladung