Irm Hermann oder Mein erstes Mal

Irm Hermann sah ich erstmalig 2001 auf der Bühne, am 3. Oktober in Bremen, als Vermieterin Frau Grollfeuer in „Volksvernichtung oder Meine Leber ist sinnlos“. Das Stück galt als unaufführbar – eigentlich. Reihe 9, Platz 13, 29 Mark. Mein erstes Mal Theater.

Ich war sofort verliebt, bewunderte Charisma und Radikalität ihres Schauspiels; ihre Person erschien mir stets wie eine Persiflage, dies wiederum als Ausdruck höchst emanzipativen Wirkens. Fern, fremd, unnahbar einerseits, exotisch, ja manisch, beinah gespenstisch, andererseits verwandt. Ich ging gleich noch mal hin.

2005 brillierte sie in Atta Atta Aktion 22, als Gegenpol zu Christoph Schlingensief, der sich nackt gegen eine Wand warf: Kunst mit großem Penis. Später traf ich sie bei Konzerten von Ingrid Caven und Cora Frost. Als Tante Hedwig bei Loriot kennt sie jeder wohl.

Irm Hermann ist tot. Es lebe Irm Hermann!

Theater of the Year: Der Weibsteufel

Hey, ihr Weiberinnen und Genderverdreher,

das ist euer Stück. Aber schaut selbst. Hier regiert der Humor, und alles ist wie es ist und nicht ist. Mein Theaterstück of the year, schon jetzt.

https://theaterdiscounter.de/stuecke/der-weibsteufel

Mit Jörg Kleemann, Valerie Oberhof und Verena Unbehaun. Regie: Cornelius Schwalm. Dramaturgie: Claudia Lohmann. Musik: Stefan Hillebrand. Bühne/Kostüm: Tanja Jesek. Produktion: Theaterdiscounter und MariaKron.

Ich bin nicht nur dumm, sondern auch schlau.

Herbstsalon mit Tohubassbuuh

2. Berliner Herbstsalon

Organisation: Shermin Langhoff, Aljoscha Begrich, Çağla İlk, Antje Weitzel.

Tohubassbuuh

gorki-herbstsalonPerformance von bankleer. Mit Mehmet Ateşçi und Mareike Beykirch. Mit ihrem Tohubassbuuh, einem überdimensionierten mobilen Megaphon lassen bankleer in der Ausstellung und während eines performativen Stadtspaziergangs Sounds und Texte über Flucht und deren Hintergründe auf die Gegenwart prallen. Die Künstler stellen so neue Beziehungen zwischen öffentlichem Raum, politisch-ökonomischen Un-/Ordnungen und den darin agierenden Menschen her.

Wofür tu ich das

Eine hysterisch anmutende Einsamkeitstragödie im Theaterdiscounter.

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I’m Doing This for You
/ eine Überraschungsparty

Love hurts! Eine große romantische Geste: Er ist ein aufstrebender Stand-up-Comedian. Sie schenkt ihm zum 30. Geburtstag ein Publikum. Als Überraschung. Und während wir wartend Vodka trinken, einsatzfähig jeden Moment „Happy Birthday” zu singen, offenbart sich nach und nach das wahre Wesen ihrer Beziehung. Und dann kommt er endlich an!

im-doing-this-for-youI’m Doing This for You präsentiert eine kühne, eine mutige Idee und handelt hochkomisch von Liebe auf den 3. Blick, aber auch von trauriger Einsamkeit, Zusammensein und den Kompromissen dazwischen. Wie kann man einen schrecklichen Fehler wieder gut machen? Wie soll man jemanden auf die richtige Art lieben? Manchmal ist der einzig richtige Weg, einfach weiterzugehen!

Unsere Gastgeberin hat sich mit blonder Perücke, orangenem Kleid, und Peep Toe Pumps bewaffnet und ist bereit zum Äußersten zu gehen. Warum wird ein Mann, der seine Liebe inszeniert, um eine Frau zurückzuerobern, romantisch genannt, aber eine Frau, die genau das Gleiche tut, gilt als hysterisch oder pathetisch?

im-doing-this-for-you-haley-mcgeeWährend wir der Liebesgeschichte aus ihrem Munde immer neu Facetten ablauschen, spricht der männliche Part (jeden Abend ein anderer Berliner Schauspieler) kein Wort. In I’m Doing This for You geht es um Überraschungen in allen erdenklichen Variationen. Doch keine Angst, Sie dürfen sitzen bleiben. Es wird selbstgebackenen Kuchen geben. Wir werden singen. Und dann nach Hause gehen.

Mit Haley McGee & Gästen. Regisseur: Mitchell Cushman. Autorin: Haley McGee. Dramaturgin: Deborah Pearson.

KarlMaySelf

Ironisch verdichtetes, überaus humorvolles Erzähltheater mit großartigen Schauspielern und einem real-fantastischem Fisch, im Theaterdiscounter.

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/ Leben in Wild West Manier

Durch den weiten Wilden Westen reitet stolz, mutig und reinsten Herzens der einsame Held der Abendsonne entgegen. Er kann alles erleben. Und alles sein. Dieser Held ist Karl May – in seinen Geschichten. Als er sich wirklich auf die Reise begab, erlitt er einen Nervenzusammenbruch.

karlmayself-lichthofDie Schauspieler nehmen ihr Publikum mit auf eine ereignisreiche Abenteuerreise durch Geschichten und Leben von Karl May. Leichterhand lassen sie immer neue Szenerien entstehen, wechseln rasant zwischen Dschungelerkundung, Westernsaloon und sächsischer Provinz. Die humorvollen Verknüpfungen zwischen Romanschauplätzen und Biographie zeichnen höchstunterhaltsam einen faszinierenden Kosmos Karl May.

karlmay-lichthofAnhand von Karl Mays Autobiografie bewegt sich dieser Abend an der Grenze von Realität und Fiktion. Auch heutige Identitäten drohen in der Überfülle an Möglichkeiten zu ertrinken oder in der steinigen Realität zu vertrocknen. Der Authentizitätswahn des Reality-TV und die radikale Fiktionalisierung in den Social Media zerreiben jede wahrhaftige Individualität. KarlMaySelf duelliert sich mit dem Diktat des Echtsein. Gewählte Waffen: Spaß, Unterhaltung und jede Menge Cowboys.

Ein Fest für die Lüge!

„Die Tragikomödie des Regisseurs Johannes Ender ist ein modernes Spiel mit Identitäten und kommt zu dem Schluss: Karl May ist ein bisschen wie Lady Gaga.“ Die Zeit, 01/2015

Mit Jasper Diedrichsen und Björn Meyer. Regie: Johannes Ender. Dramaturgie: Anne Rietschel. Musik: Daniel Dominguez Teruel.

Frust der Unentschiedenen

Überraschende Auswahl wenig überraschend öder Biografien, melancholische Grundstimmung, ansonsten wie schon in „Wir sind nicht das Ende“: kurz und (leider) schmerzlos.

B-Side / die Lust der Nicht-Entscheider

b-sideNoch immer gilt die Stadt als Anziehungspunkt für viele, während für andere der Lack längst ab ist. In B-Side erzählt einer seine Berlin-Story. Die Geschichte eines Überlebens-Biotops. Regisseur Frank Abt und Schauspieler Jörg Kleemann suchen nach Facetten typischer Berliner Biographien – und nach der Schnittstelle zwischen privatem Scheitern und Subversion.

b-side-lustDie Faszination für Berlin hat bislang überlebt und wächst weiter: Aber was macht die Stadt nach wie vor zum Magnet für viele kreative Aussteiger und Sinnsucher aus allen Ländern? Lange ließ sich hier fernab von allzu harten wirtschaftlichen Zwängen leben. In einem niedrigschwelligen mikroökonomischen System, das für viele die Zeit der Entscheidungsfindung ins beinah Unendliche verlängerte. Auch wenn sich diese Rahmenbedingungen gerade rasant ändern, die Stadt hat noch immer die Kraft einer Parallelwelt: Selbstbefragung und Zweifel sind wertvolle Reize und nicht existenzbedrohende Karrierekiller wie andernorts.

In keiner anderen Großstadt der Welt kann man seine Jugend länger ausdehnen als in Berlin. Nach wie vor scheint es, als könne man sich hier Mechanismen einer sich über Wohlstand und Konsum definierenden Gesellschaft noch entziehen. Doch wo liegt die Grenze zwischen aktiver Verweigerung und persönlicher Überforderung?

Spiel: Jörg Kleemann. Regie: Frank Abt. Dramaturgie: Nina Rühmeier.

Im Theaterdiscounter.

Glühende Landschaften

Launige Bestandsaufnahme mit Publikumsbeteiligung, im Theaterdiscounter.

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Glühende Landschaften
/ freie deutsche Radikale

Die Zeiten sind hart für friedliche Bürger. Dabei sah doch alles so gut aus. Wir waren wieder wer, in Fußball und Export. Integration war ein wohlklingendes Zauberwort. Bertelsmann und Xavier Naidoo riefen uns zu: „Du bist Deutschland“, und sie hatten Recht. Dem Euro ging es gut, Ägypten war ein Urlaubsland, im Internet waren Pornos der größte Kick, am Mittelmeer suchte man noch Muscheln und keine Leichen, die Marktwirtschaft war noch sozial. Es gab sogar Leute, die nach Sachsen fuhren, um Urlaub zu machen. Was ist da nur passiert?

gluehende-landschaftenDer ganze schöne Hausfrieden geht kaputt. Desintegration ist das Gebot der Stunde, das wöchentliche Enthauptungsvideo ist der heiße Scheiß auf dem Schulhof. Die Online-Kommentarbereiche unserer Zeitungen sind ein Schlachtfeld. Auf den Straßen kämpfen Salafisten gegen Counterjihadisten, Hooligans gegen Salafisten, besorgte Bürger gegen die Islamisierung ihres Nationalgefühls durch die Lügenpresse. Deutsche Nazis bauen Barrikaden gegen deutsche Polizisten. In Syrien sprengen sich Landsleute in die Luft, zu Hause zünden sie Flüchtlingsunterkünfte an. WTF? Deutschland ist ein Land von Einzelfällen und ihren Helfern.

freie-deutsche-radikalePünktlich zum Anbruch des deutschen Herbstes 2015 lädt internil auf denAbenteuerspielplatz des politischen Internets. Mit ihrem Publikum surft die kulturschaffende Bezugsgruppe durch Texte, Streitgespräche, Bilder, Lieder und Videos verschiedener radikaler Lager. Dafür rüsten die Performer_innen ihre Körper auf, damit sie den postpolitischen Wahnsinn aushalten, und entwickeln ein Szenario, das ausgewähltes Propagandamaterial auf dem Boden der FdGo und in Echtzeit verarbeitet. Aber natürlich darf dabei auch die Unterhaltung dabei nicht zu kurz kommen! Freuen Sie sich mit uns auf einen informativen und unterhaltsamen Abend zwischen Reichsbürgern und Postautonomen, Neurechten und Altnazis, Jihadisten und Counterjihadisten, Antideutschen und Antiimperialisten, Infokriegern und „besorgten Bürgern“.

Schwanensee Solo

festivaaliEine kurzweilige, dramaturgisch stark verdichtete, humorvoll und spannend erzählte Schilderung eines überaus sympathischen Scheiterns am viel zu großen Vorhaben, von und mit Annika Tudeer, im Rahmen des Festivals finnischer Performance-Kunst im Theaterdiscounter.

Annika does Swanlake

annika-goes-swanlakeEin weltbekanntes Ballett, in dem sich ein junger Mann, Siegfried, an seinem Geburtstag in einen Schwan verliebt. Sehr seltsam. Warum wollen Menschen Jahr für Jahr immer wieder Schwanensee sehen? Annika Tudeer, Gründerin der international erfolgreich tourenden Gruppe Oblivia, nimmt das Ballett Schwanensee als Rahmen für eine Performance darüber, dass es vielleicht gar keine so gute Idee war, aus Schwanensee ein Solo zu machen.

Der Glückswunsch: eine tanzgeile Sau

Drei literarische Vorlagen dienten hier, eine KARRIERE zu erschaffen, und was daraus hervorgegangen ist, ist tatsächlich auffallend literarisch – und das ist viel, aber reicht das? „So erhellend wie eine ölverschmierte Seemöwe“, denke ich, und doch zirkuliert hier etwas, etwas Großes, etwas Mächtiges, etwas an sich selbst Scheiterndes, ein irrlichterndes Scheitern im Versuch, Begriffe wie Freiheit und Glück aus dem geistigen Ghetto des Weisheitspathos zu befreien. „Der Glückswunsch ist eine tanzgeile Sau“, erfahren wir und wollen endlich lachen, doch auf dem Weg dorthin siegt die Frage: Wo ist der Humor? „Ein Spieler vor dem Tor, und er trifft es nicht“, denke ich, und als das Spiel zu Ende ist, verlassen die ersten schon den Saal, während andere ergriffen applaudieren. Im Theaterdiscounter.

karriereAm Anfang steht die Entscheidung, was will ich erreichen: Ruhm, Vermögen, persönliches Glück? Lebensplanung wird kurzerhand auf drei Kategorien reduziert. Der Sinn des Spiels ist vorwärtszukommen, stellt die Spielanleitung des Gesellschaftsspiels KARRIERE von 1955 klar. Der Hersteller Parker wirbt: Ein heiteres Spiel um ein ernstes lebensnahes Thema!

Sind persönliches Glück, Ruhm und Vermögen heute noch relevante Stufen der Karriereleiter? Ständig schreiben und optimieren wir unsere Biografien. Selbstbestimmtheit ist dabei ein hohes Gut, doch der Druck hat keineswegs abgenommen. Wir buhlen um Image, beschaffen Referenzen, erkämpfen Erfolge kurz: Wir machen Karriere. Wer weiß, was er will, gewinnt. Wer einmal scheitert auf seinem Weg, hat automatisch verloren?

karriere-kathrin-mayrAusgehend vom Brettspiel KARRIERE haben drei junge Dramatiker Geschichten entlang der in der Spielstrategie zentralen Grundpfeiler Ruhm, Glück und Karriere erarbeitet. Dirk Laucke verbindet den Diskurs dreier Möwen über den Zusammenhang von Freiheit und Ökonomie mit einer Erb- und Familiengeschichte zum Thema Vermögen. In Ferdinand Schmalz’ Text über das Glück zieht das Leben des Karrieremenschen Egon Erichs wie ein Film an uns vorbei. In dem Stück Ruhm verknüpft Gerhild Steinbuch öffentliches Sterben mit dem schonungslosen Blick auf den eigenen Mangel aus einer besonderen Perspektive.

„Zum selbstgesteckten Ziel führt die geplante Karriere: durch Widerwärtigkeiten, Mißgunst, jähen Aufschwung, schwierige Entscheidungen“, weiß die Spielanleitung und verspricht, dass man sich auf seinen Landsitz im Tessin zurückziehen kann, sobald man alle Ziele erreicht hat.

Mit Irene Benedict, Alexander Jaschik, Mathis Kleinschnittger. Regie: Kathrin Mayr. Bühne: Fabian Wendling.

Intelligentes Zwerchfellkitzeln

Eine überaus grandiose, in sich und über die Erwartungen hinaus wachsende Darbietung spielerischer Lebenslust, eng an der Realität, nah am Wahnsinn, tragikomisch, herzzerreißend, fein und menschlich, immer wahr. Verena Unbehaun gelingt es dabei scheinbar mühelos, die Wirklichkeit satirisch zu erschließen, ohne von oben herab in die Welt des Schlagers einzufallen. Intelligentes Zwerchfellkitzeln im Theaterdiscounter.

In meiner Bluse platzt die Primel

Na gut, dann eben Schlagerstar! Mischelle Schmidt-Turban hat sich ohne Erfolg übern Coach zum Coach coachen lassen. „Ich möchte, dass alles an mir und um mich herum immer so bleibt wie ich bin. Ich möchte alles an mir immer so behalten wie ich’s von klein auf kenne.“

schlager-als-chanceDie arbeitslose Schlagerkünstlerin ist ständig im Zweifel und im inneren Kampf, ob sie ihr künstlerisches Ich aufgeben und eine Umschulung machen soll. Zum Schluss lässt sie sich im Zoo einliefern, damit ihr authentisches Im-Gehege-Rumsitzen von Zoobesuchern endlich mit Interesse aufgenommen wird. Gegen die böse Welt draußen wappnet sie sich mit häuslichen Megahits wie ihrem Titelsong Nr. 1 „Ist das nichts?“ und „Das Leben ist schön“.

in-meiner-bluse-platzt-die-primel-unbehaunDie gestalkten Fans hocken dabei im Wohnzimmerregal und ihr brutaler Gerichtsvollzieher Harley Weewax aka Stefan Hillebrand sitzt ans Keyboard gefesselt und haut wütend in die Tasten. Zusammen haben sie ihre tägliche Euro-Vision und bauen Megaschlager über den alltäglichen Abgrund hinweg als schöne Möglichkeit, die große Siedlungs-Depression in Middelerde zu überwinden und endlich von alleine Größe zu empfinden.

Eine krude schlagernde Unterhaltungsdienstleistung.