„Telefavela“ – ein Stück des – mit Verlaub – genialen René Pollesch. Und mit einer grandiosen Sophie Rois, im Prater.
Das Ganze hat Charme. Die Spielstätte der Volksbühne im Prater an der Kastanienallee im Prenzlauer Berg zehrt von ihrem informellen Charakter: Der Eingang an der Seite, das Gebäude weitgehend unsaniert und dann werden die Gäste drinnen auch noch in ein großes Zelt geleitet, welches so hoch mit Sand ausgelegt ist, dass das Gehen schwerfällt. Nun heißt es Platznehmen, irgendwo zwischen den kleinen Bänken und Kissen im Sand.
Eine blonde Frau in Reitkluft tritt auf und spielt eine Art Moderatorin. Schnell wird klar: Hier wird es um etwas Bedeutendes gehen. Dieses Stück wird nicht seicht werden und nur knapp über dem Boden schweben, sondern eine großartige Aura entfalten. Ein älterer, grobschlächtiger Kerl wird am Rande der Sand-„Bühne“ in einem großen Ohrensessel Platz nehmen und gelegentlich – entrückt, aber doch verwandt – einen sehr individuellen, bahnbrechenden Spruch oder Kommentar absondern, schnoddrig berlinerisch und hitzig. Nun aber zum höchsten Genuss: Sophie Rois stapft als entschlossene Comtess durch den Sand. Es wird sich ein Orkan gewaltiger Redewut entfesseln und uns Alle am Leid einer reichen Brasilianerin teilnehmen lassen, die sich von ihren Security-Leuten bestohlen fühlt und für die jene Leute, die in den Favelas (Slums) leben, nicht viel mehr als eine dreckige Kulisse darstellen, wobei allerdings – und das ist wahrhaft interessant – auch sie selbst unter ihren Lebensverhältnissen – der Entfremdung vom eigenen Ich, von den menschlichen Werten – leidet, ihre ganze Umwelt als eine „informelle Scheiße“ wahrnimmt und daher mit dem Freitod liebäugelt.
Sophie Rois flüstert diese Gemütslagen nicht in den Zeltraum, sondern sie röhrt und brüllt sie ausufernd in ihn hinein und scheint dabei dem Wahnsinn doch recht nah, ja genau dies ist so außerordentlich an der Umsetzung des auch intellektuell herausragenden Stoffes. Es wird intensiv und aggressiv gespielt; der Dreck unserer ungerechten Welt wird geradezu in den Sand gehustet. Das schwere Stapfen im Sand scheint eine ideale Metapher zu sein und spiegelt sich am Bild des Strandes, wo sonst Entspanntheit und Leichtigkeit herrschen. Immer wieder wird die (brasilianische) Realität beschrieben und mit brutalen Fakten ins Licht gerückt. Dass Sophie Rois, deren Stimme sich dabei immer wieder überschlägt, all dies – samt der nicht enden wollenden Monologe – bewältigt, offenbart ihr großes Können und auch ihr revolutionäres Temperament.
Als später Desirée Nick als Tante Usnavy (!) durch den Sand, in die Szenerie hinein krabbelt, schlägt das Stück einen Haken, globalisiert sich in eine weitere Facette hinein, findet noch mehr Ungerechtigkeiten und noch mehr Schuld(ige). Nun wird abermals klar, dass Pollesch auch auf Symbolik setzt und uns die intellektuelle Auseinandersetzung nicht mit sperrigen Gewaltmonologen erschweren möchte, obwohl gerade auch diese ihren Platz finden, jedoch in der Eigenart einer Sophie Rois oder der einer Desirée Nick. „Diese ganze informelle Scheiße hier“, die unsere Comtess am Leben verzweifeln lässt, bedeutet in dieser Bühnenbearbeitung nicht weniger als revolutionäres Theater – ein seltenes Wagnis und seltenes Vergnügen, oft in den Kinderschuhen steckengeblieben, hier jedoch in einer ausgereiften, überzeugenden Fassung.
Theater kann sich offenbar also doch noch den sozial- und gesellschaftskritischen Themen widmen, bissig und treffend sein und dabei so sexy rüberkommen, dass eine revoltär geneigte Berlinerin genauso ihre Freude daran findet wie der aus dem reichen Süddeutschen stammende Neu-Prenzlberger, welcher eine Revolution ansonsten allenfalls noch im World Wide Web vermutet hätte.
Ein intellektueller und atmosphärischer Genuss – Sinnesfreuden garantiert!
Das Stück läuft noch einige Male.