Eine (neue) Gewalt-Debatte ist so nötig wie eh und je, doch es gibt einen (wieder) zunehmenden Bedarf für eine solche Debatte. „Demokratie – langweilig wird sie nie“, sang Andreas Dorau 1988. Aber genau das droht sie zu werden, Vielen ist sie’s schon längst – und eigentlich leben wir ja sowieso nicht in einer Demokratie, sondern nur in einer Repräsentation von Mehrheitsinteressen, die aber in einem Zeitalter fast ungebremster Macht von Kapitalinteressen – über Politik, Wirtschaft, Konsum, Kultur und Medien – wohl eher als fremd- denn als selbstgelenkt angesehen werden müssen.
Gewalt ja! Gewalt haben wir (oder eben nicht) – die Gewalt über unser Leben, über unser Handeln, über unsere Träume. Oder haben wir sie verloren – vielleicht auch nie gehabt? Aber: Wir streben nach dieser Gewalt.
Wer in unserem Namen Gewalt ausüben will, der muss mit unserer Gewalt rechnen – mit unserer Gewalt über uns. Gewalt über sich zu haben, bedeutet auch die bewusste Entscheidung für oder gegen eine Sache – eine Entscheidung des freien Willens (Selbstgewalt). Ich will das an einem Beispiel verdeutlichen: In Afghanistan werden Militäreinheiten eingesetzt, die dort in unserem Namen Politik durchsetzen. Gefragt hat uns niemand – niemand hat gefragt, ob wir in einem sog. Staat zusammengefasst sein wollen, niemand hat gefragt, ob wir unter dieser Zwangszusammenfassung die von den Zwangszusammenfassungsorganen getroffenen Entscheidungen mittragen wollen. Wir haben sie einfach schweigend mitzutragen. Wer allzu munter aus dem staatlichen Kollektiv tanzt, der riskiert nicht nur seine „bürgerlichen Rechte“, nein, der kann auch damit rechnen, dass er seine Menschenrechte einbüßt. Im nebeligen Übergang der Menschenrechte in die „Bürgerrechte“ befindet sich ein übergreifender Zwischenraum, in dem schlichtweg der Gewalt-Stärkere bestimmt – nicht der, der mehr Gewalt über sich selbst hat, sondern der, der mehr Gewalt über Andere hat. Diese Bestimmung über Andere ist gerade in diesem Zwischenraum eine Fremdbestimmung besonders übler Natur, weil sie nur über Gewalttätigkeit (staatl. Repression durch entsprechende Aktivierung von Behörden, Polizei, BKA, Geheimdienst, Militär etc.) aufrecht zu erhalten ist, vor Allem aber deshalb, weil sie den Unterschied zwischen „meiner Meinung“ und einer „Zwangskollektiv-Meinung“ zu verwischen bzw. zu unterbinden versucht. Dies ist zwar ein aussichtsloses Unterfangen, dennoch erzeugt dieser Unterbindungsversuch (Gegen-) Gewalt.
Ich will hier gleich sagen: Der Einwand, dass es in einer „Demokratie“ immer möglich sei, eine abweichende Meinung zu artikulieren, wird erstens durch immer (neue) Erfindungen zur direkten Unterdrückung eben dieser (Demonstrationseinschränkungen, willkürliche und repressive Ermittlungsverfahren, Verhaftungen, politische Justiz), zur Nicht-Verbreitung (Stichwort Medien-Gleichschaltung) und zur Negierung (Forderung der Akzeptanz einer Mehrheitsentscheidung) widerlegt und ist zweitens für die unterlegene Minderheit irrelevant, weil das „demokratische“ Ergebnis insofern unbefriedigend ausfällt, als dass es die Minderheitsmeinung zu absorbieren versucht. Daher ist es von je her so, dass eine kluge (Selbst-) Lenkung einer tatsächlichen Demokratie (oder auch einer „Demokratie“) darin besteht, die Minderheitsinteressen ausreichend zu berücksichtigen. Genau dies aber ist nicht der Fall und lässt sich auf nahezu alle Bereiche der Politik beziehen. Die in eine solche Lage geratende Minderheit (Einzelne oder eine Minderheiten-Masse) steht vor zwei besonders großen Herausforderungen: Zum Einen muss sie ihre Selbstgewalt unter widrigsten Bedingungen zu erhalten versuchen, zum Anderen muss sie nun einen anderen Weg finden – wiederum unter widrigsten Bedingungen – ihre Interessen zu artikulieren und zudem die verwehrte Einbeziehung ihrer Interessen zu kompensieren versuchen.
Welche Möglichkeiten bestehen? Die – systemisch gewollte, (a) über zuckrigen Kapitalismus und (b) über „soziale Zuckerli“ geförderte oder geschaffene – weitverbreitete Lethargie einmal außen vorgelassen, besteht zum Einen die Möglichkeit des sog. Rückzugs ins Private und zum Anderen ein offensiver, öffentlich wahrnehmbarer Kampf. Dieser Kampf wiederum hat viele Facetten. Während Kusine Kampf Gewaltaktionen gegen (das System repräsentierende) Sachen und Neffe Gewalt Gewaltaktionen bevorzugt, die dem Zivilen Ungehorsam zugerechnet werden können, wählen – parallel oder stattdessen – Tante Gewalt die wort- und rechtspolitische Aktion (Journalismus, Volksbegehren, Bürgerbegehren, juristische Auseinandersetzungen) und Vetter Gewalt den sog. Marsch durch die Institutionen (diverse Beispiele…), der sich zum Teil als erfolgreich (gesellschaftsrechtliche Liberalisierungstendenzen) zeigt, zum Teil als zähes, aber erfolgloses Streiten (diverse frustrierte Funktionsträger in den diversen staatlichen und außerstaatlichen Institutionen) erweist und sich zum Teil als Verrat und Wendehalspolitik entpuppt (unzählige Beispiele à la Joschka Fischer). Auch die mehr oder minder verstoßene Tochter Gewalt soll nicht verschwiegen werden: Ihr Handeln sieht auch Gewalt gegen Menschen (das System repräsentierende und/oder Kollateralschäden, also unschuldige Opfer, die in Kauf genommen werden) vor (siehe z. B. Teile der RAF).
Gewalt bietet also ein vielschichtiges Panorama. Gewalt erzeugt Gegengewalt, heißt es. Das ist zweifelsohne wahr und funktioniert in beiderlei Richtung. Im Sinne eines Widerstandes gegen die Fremdbestimmung meines eigenen Willens (z. B. über kapitalistische Konsummechanismen) und die „Auch-in-deinem-Namen-Politik“ des Zwangskollektivs soll und muss diese Aussage wahr sein und Gegengewalt wahr werden!
Gewalt bedeutet nicht Militanz. Militanz selbst kennt – wie beschrieben – ebenso Unterscheidungen in Gewalt gegen Sachen und Gewalt gegen Menschen. Für Einige ist bereits die erstgenannte Form der Militanz untragbar, für Andere eine notwendige Konsequenz. Wer aber Militanz verabscheuen will, sollte zumindest eine Vorstellung davon haben, wie die Alternativen dazu aussehen. Einige habe ich bereits genannt. Mir selbst fielen zunächst ein: Im Bildungswesen aktiv werden, direktdemokratische Mittel anwenden (Volksbegehren, Bürgerbegehren), alternative Netzwerke und Ökonomien aufbauen, Proteste und Zivilen Ungehorsam ausweiten. In diesen Bereichen ist unendlich viel zu tun.
Manchen erscheint diese Unendlichkeit als so erschreckend unendlich, dass sie ein Ende mit Schrecken bevorzugen. Ob das dazugehörige Sprichwort auch dann wahr – wenn überhaupt passend – ist, wenn es um die Frage der einen oder anderen Militanz (-Aktion) geht, wird wohl ehrlicherweise niemals jemand zweifelsfrei mit Ja oder Nein beantworten können. Daher: Vielleicht.
Im Bezug auf die zuvor beschriebenen Alternativen steht für mich aber zweifelsfrei fest: Gewalt ja!