Und wieder einem Genre das Fliegen beigebracht!
Cora Frost und MS Schrittmacher – Maria Walser, Martin Stiefermann – mit Zucker & Butterband: Gary Schmalzl, Toni Nissl, Micki Meuser.
Taktstelle – die Musiktanzreihe. SO36 Berlin, 25.11.2015
Die andere Welt beginnt hier und sofort
Und wieder einem Genre das Fliegen beigebracht!
Cora Frost und MS Schrittmacher – Maria Walser, Martin Stiefermann – mit Zucker & Butterband: Gary Schmalzl, Toni Nissl, Micki Meuser.
Taktstelle – die Musiktanzreihe. SO36 Berlin, 25.11.2015
Soberngrad, Februar 2014
Ein überzeugendes Stück von Falk Richter und Anouk van Dijk, voller Kraft und Leidenschaft, revolutionär geneigt.
TRUST, das halb getanzt, halb gesprochen und in beiden Formen zu annähernd 100% ausgeformt erscheint, handelt vordergründig von zwischenmenschlichen Beziehungen, genauer gesagt jenen schlimmen Dingen, die sich Partner antun. Was hier stimmt, das ist dort – in der Frage des kapitalistischen Wertesystems – nicht weniger richtig. Und die Metapher funktioniert. Ein selten humorvolles Stück ist dabei herausgekommen. Was viele kaum zu denken wagen, wird hier zum eigentlichen Thema: Finanzjongleure haben unser kapitalistisches System und den Glauben daran stärker und nachhaltiger zerstört als es sich die RAF in kühnsten Träumen ausmalen wollte.
Was kann ich tun? Soll ich mir ein Che Guevara Shirt bei Prada kaufen und damit über den Kudamm laufen? Wer solche Fragen stellt, will seine Ohnmacht nicht verschweigen; und dann gibt es da noch die Last der guten Vorsätze und Gedanken, die schlauen Bücher im Keller, die – gelesen – in ihrer Gesamtheit schwer wie Blei auf dem Einzelnen lasten.
Das durchaus heterogene Publikum quittiert diese Neigung zur Wahrhaftigkeit mit warmem Zwischenapplaus und tosenden, lang anhaltenden Ovationen, die mir nur noch aus anderen, das gleiche Thema behandelnden Aufführungen bekannt sind. Überraschend scheint, wie sehr sich auch offenkundig gutsituierte Theaterzuschauer den Kapitalismus vom Halse wünschen. Die Menschen im Publikum machen sich quasi Mut, es zu schaffen, doch tun sie am Ende vielleicht doch nur das, was ihr Gewissen von ihnen erwartet: Sich darin versichern, dass s i e ja nicht mitmachen in diesem Spiel, welches sie allerdings gerade gewinnen?
Ars melancholiae – ein vitalisierendes Feuerwerk des Schmerzes.
14. Reihe – die letzte Reihe, Sitzplatz außen, weit oben und sehr weit weg von der Bühne; jene insgesamt sehr dunkel, nur einige wenige Spots. Auf der fernen Bühne lässt sich eine Unzahl an weißen Stühlen, Sitzen und Bänken und auch Wippen entdecken. Soweit also die gar nicht mal so guten Vorbedingungen. Am Ende aber werde ich rege am Geschehen teilgenommen haben, beinah direkt auf der Bühne sitzend, ohne mich fortbewegt zu haben und ich werde unweigerlich in den Bann gezogen worden sein. Als dafür verantwortlich haben zu gelten: Drei Tänzer und eine Tänzerin, welche meistenteils zu einem ausdrucksvollen Klumpen verschmelzen und dennoch ihre Individualität behalten – und dazu wieder einmal Cora Frost, das immer wieder neu am Leben erkrankende und mit einer wundervollen Stimme versehene Engelstier, das zudem ein ums andere Mal das Wunder vollbringt, mit dem Publikum in den Abgrund zu springen, ohne dabei den Boden unter den Füßen zu verlieren.
Und dabei habe ich nicht einmal vorgehabt, das Stück besonders gut zu finden. Andere haben sich das vielleicht sogar vorgenommen, dann aber offenbar mit ihren Ansprüchen so manche Mühe gehabt. Beinahe ein Zehntel der rund 400 Gäste verlässt mehr oder weniger leise nach und nach den Saal. Offenbar steckt Polarisierendes in dem Stück – und das ist sehr wünschenswert, denn allzu gefällige Stücke hat man schon allzu oft erlebt. Ob die einzelnen Zuschauer nun aber aufspringen, weil ihnen die Kunst zu hoch oder aber ebendiese nicht hoch genug erscheint, bleibt wohl ihr kleines Geheimnis.
Es handelt sich bei „Ars melancholiae“ um ein Tanzstück, das in seiner Interpretation tief in der menschlichen Seele zu Hause ist. Kunstreich ist es, aber dennoch nicht in den Höhen abgehobener Kunst-Sphären verendend; ein Stück mit berührendem Gesang, mit Chorälen und in einer glänzenden Beherztheit ausgeführt, die so manches arg verkünsteltes Stück matt aussehen lässt. Es wird entschlossen und erfolgreich mit all dem experimentiert, was wahrhaft menschlich ist: Mit zarter und mit intensiver Poesie, mit Humor und Komik, mit Erotik und mit allem Anderen, das Abgründe in sich birgt. Fantastisch dabei auch sowohl Einfall und Umsetzung des im Hintergrund auf weißem Tuch abgespielten Films, in dem das Publikum von einem melancholisch anmutenden Kind durch verschiedenste Sequenzen trauriger Zustände und Aktivität geleitet wird. Am Ende spricht das Kind – László Sandig – mit tiefem, traurigem Blick seine ersten und zugleich die letzten Worte des Stückes.
So beseelt ist Schmerz selten auf die Bühne gebracht worden. Die in seinem Titel angekündigte und daher an jeder Ecke und Biegung vermutete Melancholie ist hier lediglich die Grundlage, ja die Sprungschanze für etwas, dass den Ruinen einer von Trauer überwucherten Seele entwächst. In Wahrheit werden hier auch die gar nicht so traurigen Lebensgeister geweckt, als Trauerkloß jedenfalls muss niemand den Weg nach Hause finden. Und wenn doch, dann kann man sich des des Frostschen Enthusiasmus erinnern: „Ich bin die gute Fee. Wo seid ihr denn alle? Och nee, das ist aber ein doofes Fest! Da, ein Prinz! Ein richtiger Prinz! Und ein kleiner Prinz! Eine Prinzessin! Eine echte Prinzessin!“
Ars melancholiae – ein Stück von und mit Juan Kruz Diaz de Garaio Esnaola, in der Ankündigung des Radialsystem V mit dem Begriff „Tristesse“ in Verbindung gebracht. Andere würden vielleicht von „Traurigkeiten“ sprechen. Jedoch: Tristesse ist letztlich eher ein oberflächlicher Zustand, Traurigkeit kann viel heißen und Trauer trägt man. Schmerz aber muss man fühlen.
Ars melancholiae – ein Stück, reich an aufrechter Menschlichkeit – ein Stück, an sich viel zu schade für das rückgratarm betriebene, seelenverkaufte Radialsystem.
Ein Spectaculum nach Shakespeares Geschmack, vermutlich.
Das Publikum erhält Einlass über die Bühne, wo es mit Sekt und erotischen Anspielungen begrüßt wird.
Constanza Macras und Thomas Ostermeier bieten hier eine Melange aus Gesellschaftskritik, inszenatorischem Feuerwerk, gefühligen Momenten, eindringlicher Erniedrigungen und glasklarer Wollust. Zum Zwecke der Kapitalismuskritik schweben unter der Plattform der zweiten Bühnenebene zahllose Werbeballons, die während des Spiels in Bewegung geraten, durch die Szenen schweben oder davonfliegen.
Als Bühnenkulisse wurde eine moderne Schalenfassade gewählt, wie man sie in etwa von der abgetragenen Lochfassade (Wabenfassade) des seit letztem Jahr verunstalteten „Kaufhof am Alexanderplatz“ her kennt.
Klar bleibt während des gesamten Stückes, dass Macras und Ostermeier keine Lust haben, dem üblichen Bedürfnis nach weiblicher Nacktheit allzusehr nachzukommen, wohl auch deshalb setzen sie hier mehr auf die männliche Blöße.
Fantastische Kostümierungen, sensible und stürmische Choreografien sowie eine ausgeprägte Individualität der Schauspieler machen das Stück ausdrucksstark. Musikalische Begleitung erfährt es durch eine Art Punkband, deren Sänger hin und wieder die Bühne entert und dann durch seine technisch wie emotional außergewöhnliche Stimme begeistert.
Am Ende ist der Jubel verhalten und die Gründe dafür bleiben eigentlich unklar. Einerseits hat das Stück zwar vor Allem auf eine bunte, bonbonfarbene Lüsternheit abgezielt, die meist in schnellen Wechseln über die Bühne tobt, was als etwas zu vordergründig ausgelegt werden könnte, andererseits dürfen wir uns mehr als glücklich schätzen, exklusiv dem zeitgenössisch modernen Schaffen von Macras und Ostermeier beiwohnen zu können.
Vielleicht sind wir in Berlin zu verwöhnt, fühlen uns von diesem Stück nicht genügend gefordert, oder vielleicht waren ja doch viele Zuschauer überfordert oder fühlten sich von den freizügigen Exzessen beleidigt. Wer kann da schon hinter die Fassade blicken.